Dos Kelbl (Sagres)

Der stürmische Wind der Felsalgarve im Südwesten Portugals klingt noch immer in meinen Ohren, so wie das Lied, das mir die allgegenwärtigen Schwalben in Sagres in den Kopf gesetzt hatten. Es war gut und richtig gewesen, dieses Jahr das WGT zu schwänzen, auch wenn es mir leid getan hat, nicht mit Ines und den beiden Krefelder Grufties Blödsinn zu verzapfen. Ich war schlicht und ergreifend viel zu erschöpft und ausgelaugt von den stressigen letzten Monaten, meiner Jobsituation (ich arbeite permanent für zwei bis drei) und nicht zu vergessen dem anstrengenden Zahnspaß in Leipzig. Fast hätte ich auf meinen Abflug verzichtet, so müde war ich. Keine Lust zum Packen am Vortag, viel lieber wollte ich meinen Urlaub mit meinen Katerchen in meiner Sofaecke verbringen und einfach gar nichts mehr tun. Das habe ich mir glücklicherweise dann doch noch anders überlegt, in Windeseile sehr konfus gepackt und gerade noch rechtzeitig den Flughafen erreicht.

  

Why don't you have wings to fly with

Like the swallow so proud and free?

 

Nein, ich bin keine Schwalbe. Eher ein flugunfähiger Dodo. Wie flugunfähig, sollte sich gleich zu Beginn meiner günstigen Pauschalreise (schließlich hatte ich gerade erst meine Zahnsanierung bezahlt) herausstellen.

 

Es hätte mir etwas mehr zu denken geben sollen, dass die Flüge nach Faro mit Ryanair stattfanden. Tat es auch, teilweise. Drum kaufte ich mir einen Priority - Sitzplatz. „Bei uns sitzen Sie in der ersten Reihe!“ 1. Reihe stimmte. Das Sitzen jedoch war relativ, wobei die Beinfreiheit genial war. Nur mein hinterstes Teil fühlte sich wie ein in eine Sardinenbüchse gequetschter Wal. Teile von ihm passten nicht hinein und so hing ich in einer grotesken Haltung ziemlich unglücklich diagonal schräg schief. „Selber schuld“, schimpfte ich mich aus. „Was bin ich auch so fett.“ OK, die stolze Körpergröße von 1,87 cm hatte ich mir nicht ausgesucht. Sie kam jedoch erschwerend hinzu. Ich fragte den Purser nach einer safety belt extension. Ihm tat ich offensichtlich leid, denn er meinte, dass sie mich noch umsetzen würden, damit ich es more comfortable hätte. Kurze Zeit später wies er auf Reihe 2 auf der anderen Seite, ebenfalls mit massig Beinfreiheit, und bot mir an, mich dort niederzulassen. Erleichtert parkte ich mich außen am Fenster, denn dieser Sitzpferch war breiter als seine Nachbarn. Es bestand wieder Hoffnung, den Flug einigermaßen lebendig zu überstehen.

 

Immerhin für ganze sieben Minuten. Danach polterte ein deutscher Ehemann Ende 50 los, dass ich seinen Platz besetzte. Mein Einwand, dass ich gerade erst dorthin gesetzt worden war, prallte an ihm und seiner grimmig guckenden Ehefrau ab. „Ich bin leider zu groß und zu dick für die anderen Sitze hier…“, entschuldigte ich mich und hoffte auf ein Einsehen des Teutonen. Wütend insistierte er dem Purser gegenüber, dass sie die Plätze F und D gebucht (und bezahlt! hätten) und diese nun auf der Stelle einzunehmen gedächten.

 

Unglücklich quetschte ich mich teilweise in Platz E, der genauso eng war wie mein ursprünglicher Platz. Resigniert schnallte ich mich mit dem verlängerten Gurt an. Ich hing ziemlich schief auf einer Urschbacke kauernd im Flugzeug herum. Der Rest von mir kollidierte mit der Inneneinrichtung. 3,5 h Flugzeit und wir waren noch nicht einmal gestartet. Es wurde ein grausam langer und sehr schmerzhafter Flug. Trotzdem fielen mir immer wieder die Augen zu, denn ich war total erschöpft. Als ich irgendwann einmal blinzelte musste ich feststellen, dass die verkniffen blickende Ehefrau rechts neben mir nichts Besseres zu tun hatte, als mit ihrem Handy „Selfies“ von mir unglücklichem Häufchen (?) Elend anzufertigen. Das auffällige Türkis meines T-Shirts leuchtete mir provokant entgegen. Ich wollte wütend meine Persönlichkeitsrechte geltend machen, brachte aber leider keinen Ton raus. Meine Zunge klebte an den neuen Zähnen. Solche wie ich passen nicht in die hämisch-egoistischen Schubladen dieser RechtundOrdnungsbürger…

 

Beim Verlassen des Fliegers nutzten sie ihre Ellbogen und preschten im verbissenen Sturmschritt zum Gepäckband.

 

Ich hingegen war froh, mich trotz allem überhaupt noch bewegen zu können und verschwand erst einmal in der Toilette. Dass mir beim Verlassen derselben ein im Weg stehender Türrahmen meinen noch recht jungen Glucosesensor abriss, war eine weitere kleine Imponderatte, die mich in meinem übermüdeten „Jetzt erst Recht – Modus“ bestätigte. Richtig so - meine Reisetasche war die erste, die das Gepäckband ausspuckte. Grinsend hüpfte ich vor allen anderen mit meinem übersichtlichen Tross zur Autovermietung und nahm Kurti, mein weißes Windei, in Empfang. Die 120 km Fahrt von Faro nach Sagres verliefen sehr harmonisch, von den Sitzpferchblessuren einmal abgesehen. Ich war später im Hotel erschüttert, als ich die weitläufigen Hämatome meiner Kehrseite und Oberschenkel im Spiegel betrachtete. Mit ihnen und dem malträtierten Rücken sollte ich in den Folgetagen noch richtig viel Spaß haben. 'Scheiß was druff, jetzt ist Urlaub', freute ich mich und konnte meine Augen kaum vom allmählich in der Nacht verschwindenden Atlantik lösen.

 

Am nächsten Morgen beglückte mich wiederum die unglaubliche Aussicht. Schräg über dem Balkon meines doch recht verwohnten Apartments entdeckte ich ein Nest, das unermüdlich von Schwalben angeflogen wurde. Später begegneten sie mir immer wieder. Vor allem während meines langen und sehr windigen Spaziergangs rund um das Kap, auf dem sich die Fortaleza von Sagres befindet, habe ich ihre Flugkünste bewundert.

 

High above him there's a swallow

Winging swiftly through the sky

 

Seitdem ist Donna, Donna (Dos Kelbl) in meinen Kopf zu Hause.

 

 

 

Diese sieben Tage allein in Portugal gaben mir sehr viel Zeit und Raum zum Nachdenken. Die langen Spaziergänge, die Stunden am Meer ließen meine Gedanken wandern, wohin sie wollten. Teilweise waren ihre Ziele, dieses ungewohnte Innehalten, schmerzhaft und schwer zu ertragen. Nichts lenkte mich von mir selbst und meinen Problemen ab. Gedanken, die ich am liebsten für immer verbannt hätte, drängten an die Oberfläche meines Bewusstseins. Krass waren die Alpträume nachts; es ging um Anforderungen, denen ich nicht gerecht werden konnte, Menschen aus meiner Vergangenheit, Unfähigkeit, Verlust, Ohnmacht… Morgens vertrieb die Sonne jene nächtlichen Gespenster nur oberflächlich und so setzte ich mich tagsüber mit meinen vielen Baustellen auseinander.

 

Die beschämende Situation im Flieger ließ mich nicht los. Wie konnte ich nur zulassen, so fett zu werden? Warum tat ich nichts dagegen? Warum hatte ich der fotografierenden Ehefrau nicht gehörig die Meinung gegeigt? Und wie sollte ich den Rückflug mit Ryanair (ebenfalls Pferch 1 C) überstehen?

 

In jener Situation war ich nicht nur dos Kelbl, sondern eindeutig eine fette Kuh, die nicht in den Pferch passte. OK, das Übergewicht war selbstverschuldet. Nicht aber meine Länge, mit der ich Zeit meines Lebens anecke, in keine Schublade passe. Ihretwegen und aufgrund meiner Schüchternheit, meiner Eigenwilligkeit wurde ich als Kind und noch viel mehr als Teenie gehänselt, gequält. Wie sehr hatte ich mir gewünscht, nicht immer anders als die anderen zu sein…

 

"Stop complaining", said the farmer

Who told you a calf to be?

Why don't you have wings to fly with

Like the swallow so proud and free?

 

Nein, ich bin keine Schwalbe und vor allem ganz und gar nicht so, wie andere mich haben woll(t)en, allen voran meine Eltern. Inzwischen habe ich das akzeptiert, bin froh, „anders“ im Sinne von „ich selbst“ zu sein. Wenn jemand ein Problem mit mir hat, ist das seins. Nicht meins.

 

Mir ist bewusst, dass der Vergleich meiner Situation mit der im Song Donna, Donna beschriebenen Diskriminierung und Tötung von Juden gewaltig hinkt. Dennoch weiß ich, wie Diskriminierung sich anfühlt. Und es macht mir Angst, zu erleben, wie egoistisch viele Mitmenschen (geworden) sind, wie viel Raum Dummheit und  Hass, Intoleranz und Ignoranz heute für sich beanspruchen, wie Menschen, die unsere Hilfe bräuchten, erniedrigt und gequält werden, zu Tode kommen, obwohl gerade hier bei uns genug Ressourcen für alle vorhanden wären.

 

„Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“ hat Rosa Luxemburg bereits 1918 geschrieben. Das trifft auf die Freiheit in diesem unseren Lande leider noch immer nicht zu. Anstatt eine Bereicherung zu sein, ist „anders“ bei uns noch immer ein Makel.

 

Meine Zeit in Sagres war eine gute Zeit. Ich bin ein bisschen zur Ruhe gekommen. Der Atlantik hat mich überwältigt, seine Wildheit, die Schönheit der Küstenlandschaften, die Farben und Stimmungen. Stundenlang habe ich der stürmischen Brandung zugesehen, die Augenblicke genossen, in denen die Wellen tosend brachen, das stolze Gleiten der Möwen, den Tanz der Schwalben. Ich hatte Zeit und Raum, nicht nur von Pflichten gehetzt meine Tage zu absolvieren, zu funktionieren ohne nachzudenken. Ich konnte mein Leben kritisch betrachten, mir überlegen, ob ich es auf Dauer von den Anforderungen meines Jobs bestimmen lassen möchte und dabei aus Frust und Lust auf die Befriedigung anderer, kreativerer Bedürfnisse jene Völlerei zu betreiben, die mich wiederum hemmt, bremst, mir die Freude an Bewegung nimmt, mich stagnieren lässt.

 

Ich möchte so nicht weiter gelebt werden, ich lehne den Stillstand ab und möchte wieder selbst bestimmen, wohin mein Weg gehen soll. Auch wenn das bedeutet, dass ich mir eventuell schon wieder einen neuen Job suchen muss. Mein Leben soll und darf nicht ausschließlich aus dem Streben nach Perfektion während der Bürostunden und der Wiederherstellung meiner Arbeitskraft in meiner Freizeit bestehen.

 

Inzwischen war ich kurz zu Hause und lasse jetzt bei Ines in Leipzig meinen Urlaub ausklingen. Stimmt -  ich habe schon wieder meinen Zahnarzt Doc Palme besucht, dieses Mal zur Kontrolle und Korrektur meiner neuen Beißheimer.

 

Am Sonntag, dem Tag meiner Abreise, hat mich der Abschied von meinem Freund, dem Atlantik, sehr traurig gestimmt. Ich habe ihm versprechen müssen, bald wiederzukommen.

 

Der anschließende Rückflug gestaltete sich auch für meine Kehrseite schonend und komplikationslos. Nachdem ich sehr sparsam gelebt und zunehmend Fracksausen im Hinblick auf die bevorstehende Ryanair-Tortur bekommen hatte, gönnte ich mir ein zusätzliches Flugticket. Dieses Mal von tuifly – und siehe da, hier passte ich in den Sitzpferch UND hatte Beinfreiheit.

Geht doch!

 

 

 

Im Nachhinein betrachtet hatten meine sieben Tage am südwestlichen Ende von Europa nicht mehr viel mit der ursprünglich gebuchten Pauschalreise gemeinsam; ich hatte sie erfolgreich individualisiert. Statt des inklusiven Bustransfers zum Hotel hatte ich mir das Windei gekapert, ohne das ich längst nicht so viele Steilküsten hätte erklimmen und fast wieder hinunterstürzen können.

 

Das selbst initiierte therapeutische Malen nachmittags auf dem Balkon wurde zu einem unverzichtbaren Bestandteil meiner pschikologischen Verarbeitung der Begegnung mit den gutbürgerlichen Teutonen im Flieger. 

 

So wie auf den im Preis enthaltenen Rückflug habe ich auch auf das Hotelfrühstück am 6. und 7. Tag freiwillig verzichtet, weil mir die im Speisesaal vor sich hin modernden Leichenbittermienen Appetit und Stimmung zu vermiesen pflegten. Nescafé brauen konnte ich mir auch alleine und diesen in Tateinheit mit Obst, Brot und Käse auf dem Balkon zu mir nehmen, während ich mich mit Schwalben und Möwen unterhielt und leise vor mich hinkicherte.

 

Auch das Abendessen gestaltete sich zunehmend piratesk. Lidl sei Dank hatte ich mich mit einer Caldeira versorgt. Auf den Azoren gibt es diese auch, allerdings sind die dort erst entstanden, nachdem die Suppe übergekocht oder gar explodiert war.
Meine Caldeira enthielt verschiedene Sorten gefrorenen Fisch. Ich hätte gern gewusst, wie die Kerle mit Vornamen hießen, aber so weit reicht mein Portugiesisch nicht und zum Nachschlagen war keine Zeit, denn ich hatte die Pfanne schon heiß. Lecker waren die Atlantikheimer (das immerhin konnte ich der Familienpackung entnehmem). Vor der späten Bratorgie hatte ich gleich um die Ecke festgestellt, dass Sonnenuntergänge viel spektakulärer sind, wenn man das allersüdwestlichste Kap Europas dabei sieht und es nicht unter seinen Füßen spürt.

 

Und so machte sich die Sonne am Ende des Abendlandes auf den Weg zur Rückseite unserer Scheibe…

 

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