Ausgangssituation... bis Juli 2016

Verbissen habe ich mich jahre-, nein, jahrzehntelang an meiner Zahnarztphobie festgehalten. Meine Erlebnisse als Kind, Teenie und junge Erwachsene bei Zahnärzten hatten mich in eine ausgewachsene Panik hineingesteigert. Mein letzter Besuch beim Dentisten fand im März 1987 kurz vor meiner Hochzeit statt. Das war das letzte Mal, dass ich mich von meiner Mutter ("Du kannst doch mit dem kaputten Vorderzahn nicht heiraten - was sollen denn die Leute denken!") auf den Zahnarztstuhl zwingen ließ.

 

Danach war es ein für alle Mal vorbei mit mir und dem Zahnarzt. Ich ging einfach nicht mehr hin. Karies und Parodontose leckt mich doch - kein Zahnschmerz konnte schlimm, kein (drohender) Zahnverlust überzeugend genug sein, mich in eine Zahnarztpraxis zu führen. Lieber dem Hausarzt eine dicke Backe als Mittelohrentzündung verkaufen, um auf diese Weise ein Antibiotikum zu bekommen... allein der Gedanke an den damals typischen Zahn­arztgeruch, die Bohrgeräusche, den Moment, einem brutalen Gebissklempner hilflos ausge­liefert zu sein, die Schmerzen...

 

Nein. Nie wieder! Ein solcher Mediziner sollte in meinem Leben nicht mehr vorkommen. Obwohl es dafür mehr als genug schmerzhafte Anlässe gegeben hätte, wenngleich es durch­aus förderlich sowohl für meine Gesundheit als auch für mein Aussehen gewesen wäre. Zahnarzt war und blieb ein Tabu. Ich ließ mich aus Scham mit niemandem auf Diskussionen über dieses Thema ein.

 

Bis ich vor wenigen Jahren mitbekam, dass meine Freundin und spätere Partnerin Ines auch unter Angst vor dem Zahnarzt gelitten hatte - diese jedoch überwinden konnte. Ich fasste auch in dieser Hinsicht Vertrauen zu ihr, schaffte es, mich nach und nach ihr gegenüber zu öffnen. Denn inzwischen war der Leidensdruck gewachsen, zumal man mir meine Zahnarztignoranz inzwischen bedingt durch einen Mangel an Vorderzähnen ansah. Trotzdem - ich wollte und konnte mich nicht überwinden, etwas für ein gesunderes und schöneres Lächeln zu tun.

 

Die Scham wurde schlimmer, ich traute mich kaum zu lachen, versuchte, den Gedanken an mein Aussehen zu verdrängen. Ich bildete mir ein, dass die Leute mich auch mit Zahnlücke(n) schätzten. Dass sie mich verdammt noch mal so nehmen sollten, wie ich war.

 

Ines hatte unterdessen in Leipzig einen neuen Zahnarzt gefunden, der sich auch um Angst­patienten kümmert. Mit ihm sprach sie über mich, fragte ihn, ob er vielleicht in Frankfurt eine Kollegin, einen Kollegen mit ähnlichen Behandlungsansätzen kennen würde. Meine Suche nach einem Zahndoc für Angstpatienten in Frankfurt hatte mich virtuell lediglich zu Beu­telschneidern geführt, denen ich weder mein inzwischen ganz und gar nicht mehr junges Leben noch meinen bescheidenen Geldbeutel anvertraut hätte.

 

Inzwischen konnte ich mir eine Zahnbehandlung in Vollnarkose vorstellen. Allerdings setzte auch diese zunächst eine Konsultation in einer normalen Zahnarztpraxis voraus. Ines bot mir an, ihren Zahndoc auf mich vorzubereiten und dann mit mir zusammen hinzugehen. Ich dachte eingehend über dieses Angebot nach. Inzwischen war der Leidensdruck endlich erwachsen geworden und so willigte ich ein.

 

 

11. Juli 2016

Nach einem total versommergrippten Festivalwochenende war es soweit. Schlotternd und schniefend schluffte ich mit Ines zu ihrem Zahnarzt Dirk Palme. Die Überwindung, die mich diese Schritte gekostet haben, vermag ich nicht in Worte zu fassen. Immerhin war ich jetzt davon überzeugt, dass etwas geschehen musste - mit einem derart maroden Gebiss wollte ich um's Verrecken nicht weiterleben.

 

Und so erzählte ich Herrn Palme, dass ich das letzte Mal anno 1987 beim Zahnarzt war, was ihn dann doch etwas erschütterte, jedoch keineswegs aus der Fassung brachte. Und dann kam der Moment, in dem ich den Mund öffnen musste. Ines hielt meine Hand ganz fest und das war auch gut so. Herr Palme machte eine Bestandsaufnahme und traf den einen oder anderen Nerv - immerhin waren noch nicht alle Mitglieder meines Gebisses tot. Ich zuckte, geriet aber nicht in Panik. Danach wurde das Bakengebiss geröntgt. Schließlich besprachen wir zwar ruhig und sachlich, durchaus aber auch humorvoll das Procedere. Sein Vergleich mit einem Tacker brachte mich zum Lachen - 1:0 für den Zahndoc.

 

Seine Gratwanderung zwischen ernsthafter Begutachtung, die mir allerdings keineswegs meine Würde nahm und flapsiger Frechheit, die niemals unter meine Gürtellinie zielte, im­ponierte mir sehr. Ich fasste Vertrauen zu Dirk Palme, ließ mir die Nachteile einer Totalex­polkation in Vollnarkose erläutern und kam zu dem Schluss, dass ich eine Behandlung in Lokalanästhesie zumindest versuchen wollte...

 

 

1. August 2016

Die drei Wochen nach diesem kühnen Entschluss sind wie im Flug vergangen, au Backe! Herr Palme hatte mir wohlweislich den Aufklärungsbogen für die Expolkation der drei Kandidaten oben rechts in der Ecke nicht mitgegeben und so hatte ich mich im Internet umfassend über Risiken und Nebenwirkungen informiert. Toll, was da so alles zu finden ist... drei Tage vor dem Termin war die erneute Lektüre dieser einschlägigen Informationen nicht ganz so förderlich, meine Panik wuchs, gewann aber glücklicherweise nicht die Oberhand, so dass ich mich sonntags vor dem Wachwerden in den ICE nach Leipzig setzte. Ich hatte in den letzten Tagen vor diesem Termin vermieden, mir den heutigen Tag in allen Einzelheiten auszumalen. Mein Unterbewusstsein jedoch hielt sich nicht an diesen Plan und so wollten doch einige Ängste mit Ines gründlich ausdiskutiert werden. Ich bewundere Ines für ihre Geduld und Anteilnahme. Heute früh hat sie mich wieder zum Zahnarzt begleitet. Ins Sprechzimmer gehen konnte ich schon alleine, allerdings verlor ich angesichts des Zahnarztstuhls und des gut aufgelegten Herrn Palme augenblicklich die Sprache. Bis auf ein paar notwendige Worte, die mir so gar nicht über die Lippen wollten. Egal, ich musste da jetzt durch. Und wollte das auch!

 

Die Spritzen waren nicht angenehm, aber auch längst nicht so schlimm wie befürchtet. Die Pat.-Info war sachlich und kurz, ich erwähnte noch beiläufig, dass ich mir das alles und noch viel mehr schon selbst angeeignet hätte, woraufhin der Zahndoc grinste. Und dann wollte er schon loslegen... MOMENT! Normalerweise geht der Zahnklempner doch erst mal raus und bohrt in anderen Patienten herum, während die Betäubung wirkt...? Nicht so heute. Maul auf, Bakenfalter, und stillgehalten. Herr Palme expolkte einen Kandidaten nach dem anderen und unterstellte mir, dass ich ES genießen würde. WTF? Es tat eigentlich nicht richtig weh, es wurde gewaltsam in meinem Maul manipuliert, viel mehr war nicht. Mein Mund wurde trocken und ich hätte ihn gern mal geschlossen, traute mich aber nicht. Als ich das schließlich durfte, war ich froh über diese Pause und total erstaunt, ein "Das war's!" zu hören... Wie jetzt? Fertich für heute? Unglaublich...

...

In den letzten Jahr(zehnt)en scheint sich in der Zahnheilkunde allerhand getan zu haben. Erleichtert schwankte ich aus dem Behandlungszimmer, vereinbarte einen Termin zum Nachgucken morgen und einen anderen in zwei Wochen für Folgeexpolkationen und durfte gehen...

 

Völlig verdattert fand ich mich zusammen mit Ines draußen wieder. Wir gingen wieder nach Hause und seitdem kümmert sie sich unendlich liebevoll um mich, bringt mir Kühlung, schenkt mir Pudding und aufmunternde Worte... hach, was für eine Frau!

Zwischendurch hat es sich angefühlt, als hätte mich ein Pferd ins Gesicht getreten. Aber da hilft Ibu 600 und nun freue ich mich auf das versprochene Kartoffelpü mit Pfifferlingrührei heute Abend.

 

Danke, meine liebe Ines!

  

...to be continued soon! 

 

 

22. August 2016

Drei Wochen ist meine letzte Operation am offenen Gebiss jetzt her. Eigentlich hätte der nächste Termin bereits am 15. August stattfinden sollen. Diesen musste ich jedoch wegen viel zu viel Arbeit um eine Woche verschieben. Und so schlotterte ich mich nach einem wunderschönen Sonntag mit Ines heute durch den Vormittag High Noon entgegen. Sämtliche Ausflüchte und -reden, warum ich den Termin nicht wahrnehmen können würden wollen müssen täte (konditionelles Fugitiv), wusste Ines nachdrücklich zu entkräften und so fand ich mich pünktlich um 12 Uhr im Zahnarzt-Wartezimmer wieder. Und fühlte mich ganz und gar nicht gut. Weder mutig noch sonst wie motiviert, eher klein, ängstlich und am liebsten garnichtda.

 

Zu spät, Dirk Palme begrüßte mich freundlich und fragte, was wir denn heute machen. "Das ist mir egal", vermochte ich sogar von mir zu geben. "Hauptsache, es rechtfertigt 2 Tage Ar­beitsunfähigkeit, denn das habe ich bei meinem Arbeitgeber angemeldet." "Gut, dann müssen wir ziehen, aber das ist toll, denn dann haben Sie diese Aktionen schon mal hinter sich!" Jau, super - so ganz konnte ich seinen Enthusiasmus nicht teilen. Wackelte dann aber doch tapfer ins Behandlungszimmer und ließ mich betäuben. Jedenfalls teilweise. Die Spritzen taten dieses Mal ganz schön weh. Oben und unten links, au Backe! Im wahrsten Sinne des Wortes. Bester Laune kippte mich der Zahndoc wieder in die Halbsenkrechte, klärte mich auf (offene Kieferhöhle, "trockener Knochen", OK, kenne ich schon...) und brachte meinen Kopf dann wieder dem Fußboden ein großes Stück näher. Immerhin hatte er es durch seine launigen Kommentare dieses Mal geschafft, dass ich lachen musste und so begannen wir zusammen mit der freundlichen ZA-Helferin die Expolkation von Zahn 37. Das ging sehr schnell, von 37 war nicht mehr viel übrig gewesen. Danach wurde es ein klein wenig ernster, denn ich hatte durch ein explizites Äh-Äh der Aussage, dass das alles doch total viel Spaß mache, widersprochen. Was genau in meinem Maul passierte, weiß ich nicht, es klang jedenfalls gruselig und die ZA-Helferin hielt mir meinen erschütterten Kopf fest. Der knirschende Weisheitszahn wollte bei mir bleiben und wehrte sich entschieden. Doc Palme hebelte am Nachbarzahn rum, mein Kiefer wackelte und dann gab der Zahn auf. "Ein Stückchen Tuber ist auch mit rausgekommen - nicht so schlimm..." Trockener Knochen? Ich wusste es!!!  Doc Palme grinste mich an und ich bestaunte das expolkierte weise Gebissteil. Hoffnungsvoll fragte ich "Fertig?" "Fertig für heute!" Ich bekam einen Tupfer zu essen und dann besprachen wir das Procedere. Das nächste Mal im September beginnen wir an drei Zähnen Wurzelbehandlungen. Er hat mir das ganz genau erklärt, aber in meiner Euphorie, die Prozedur lebend überstanden zu haben, habe ich die Hälfte seiner Ausführungen auf der Stelle vergessen. Vielleicht auch besser so... Ich habe jetzt drei neue Termine im September - es bleibt auf jeden Fall spannend!

 

Inzwischen fühlt sich die linke Wange so an, als ob der unfreundliche Ackergaul vom letzten Mal wieder zugetreten hat. So what, auch das wird vergehen.

 

Stay tuned!

 

 

8. September 2016

Denn sie wusste nicht, was er tun würde...

...und das war auch gut so. Heute bin ich mir auf Dirk Palmes grünem Zahnarztstuhl vorge­kommen wie ein Opfer in einem Horrorfilm, das den Folterinstrumenten hilflos ausgeliefert ist.

 

Es kam knüppeldick. Der Plan war, an drei von Karies zerstörten Zähnen Wurzelbehandlungen durchzuführen, um sie später mit Hilfe von Stiften wiederaufzubauen.

Ohne Betäubung, meinte Dirk Palme. Ich versuchte krampfhaft, im Stuhl zu versinken, zu verschwinden, eine Vollnarkose auszuhandeln. Nichts davon funzte. Bei Betrachtung von Zahn 12 entschied der Zahnarzt dann aber, das Ganze doch gründlich zu betäuben, da zunächst Schleimhaut weggeschnitten werden musste. Die Spritzen taten sehr weh. Danach war meine halbe Nase und die halbe Oberlippe bewusstlos, ich leider immer noch nicht. Mir wurde ein Metallteil in die Hand gedrückt. "Wenn Sie das loslassen, brennt's hier..." Hä? Ich sollte den Kauter (gemeiner Lötkolben!) zur Schleimhautentfernung offensichtlich erden, also klammerte ich mich Kraft meiner Faust an das Teil. Es wurde eklig und stank. Danach bohrte Herr Palme lustig. Ich hatte das Gefühl, dass mich riesengroße Wasserwellen ersäufen würden, schluckte und röchelte. Die Probebohrung an Zahnrest 22 ergab, dass wider Erwarten doch noch Leben in ihm war. Ich protestierte und so wurden sowohl Restnase als auch Oberlippe komplett betäubt. Die blöde Zahnruine natürlich auch. Nach weiteren Bohrungen wurde in beiden Kratern gefeilt und gestochert. Immer und immer wieder. Immer tiefer.  "Sie haben noch viel zu viele Zähne im Mund - beißen können Sie mich noch..." Hab ich gar nicht, ehrlich. Stattdessen sehnte ich mich janz weit wech, aber das Beamen gelang kein bisschen. Schließlich wurden die Krater mit entzündungshemmenden Substanzen gespült und dann ausgestopft. "Wenn die Füllungen vor Dienstag rausfallen sollten, kommen Sie  einfach noch mal vorbei." "Geht nicht, wir sind von morgen bis Montag auf einem Festival!“ "Was denn für ein Festival?“, fragte der Zahnarzt neugierig. "Mittelalter". "OK, dann gehen Sie da einfach zum Hufschmied..."

 

Mein Kichern verging mir schnell, denn jetzt war Nr. 34 an der Reihe. Dieses Mal gab es tat­sächlich keine Betäubung. Es wurde gnadenlos gebohrt und ich zuckte. Es zeigte sich ein mieser Abszess, Eiter entleerte sich. "Da nützt auch eine Betäubung nichts, denn die ist al­kalisch, während ein Abszess sauer ist." Dumm gelaufen! Ich bohrte meine Fingernägel tief in den linken Handrücken, bis das mehr weh tat als die Manipulationen am Zahn. "Der Schlächter von Connewitz!", raunte Dirk Palme, während ich mich immer tiefer in den ZA-Stuhl drückte. Es war scheußlich. Und hörte und hörte nicht auf. Schließlich wurde der abszessbefallene Zahnrest offen gelassen und mir eine Antibiose verschrieben. Praktisch, dass ich auch auf Festivals mitnichten dem Alkohol fröne... 

 

Die folgende Illustration habe ich dreist dem in der Praxis Palme geklauten Heftchen "STREPTOS + KOKKOS" entnommen und mit Kommentaren an meine brenzlige Situation angepasst.

 

Autor des Heftchens: Carlo Mausini

Illustrationen: Katja Schulze

 

Bitte per Klick vergrößern!

Mir war verdammt schwummerig, als ich aus der schrägen Schieflage wieder halbwegs in die Senkrechte befördert wurde. Immerhin durfte ich noch sitzen bleiben, während der Doc mir das Procedere erläuterte und an dem einen oder anderen Zahn herumwackelte.

 

"Es hat mir wie immer sehr viel Spaß mit Ihnen gemacht", gab mir Dirk Palme fröhlich mit auf den Weg. "Jau, war ganz toll", versuchte ich mich betäubt zu artikulieren. "Ich glaub Ihnen kein Wort!!!"

 

Nix wie raus. Draußen stellte ich fest, dass ich fast gar nicht  durch die Nase atmen konnte. Panik!!! Schwindel!!! OK, der Mund ist ja auch noch da. Mir war furchtbar flau, als ich zurück zu Ines wankte. Und später sowas von erleichtert, ihr alles erzählen zu können. Das war Hardcore heute!

 

Schalten Sie auch neksten Dienstag wieder ein...

 

 

12. September 2016

Die prachtvolle Vielfalt des Festival Mediaval mit seinen zahlreichen Begegnungen mit ähn­lichtickenden Bekloppsten, die heitere Atmosphäre voller Lebenslust, die beeindruckende Musik und nicht zuletzt der klösterliche Beistand wären kaum auszuhalten gewesen, hätte sich der abszessbefallene Zahnrest 34 nicht antibiotikumresistent gezeigt.

 

Pünktlich am Samstag muckte er  los. Er kam mir vor wie der Drache Smaug, der sich dafür rächen wollte, dass der Schlächter von Connewitz ihn am Donnerstag geweckt hatte. Smaug widersetzte sich also dem bitteren Clindamycin, schwoll an und fauchte. Die Schmerzen zo­gen vom Kieferknochen zum linken Ohr und trachteten meiner Festivalfreude nach ihrem jungen Leben. Ohne  Ibu 600 3 - 4 x täglich wäre ich noch immer aufgeschmissen. Nur gut, dass mir der Verzicht auf Alk nicht schwerfällt, bei der Chemiefabrik, die ich inzwischen ver­schluckt habe. Clindamycin absetzen ging ja auch nicht...

Morgen Vormittag reklamiere ich Nr. 34 bei Doc Palme. Ich denke, es hat keinen Sinn, bei Smaugs Höhle die Fundamente zwecks Wiederaufbau mit einem Stift zu zementieren. Schnauze voll!!!

 

 

13. September 2016

03:13 Uhr: Eine fette, glühende Metallschraube dreht sich langsam in meinen Kieferknochen und weckt mich schließlich. Scheiße, tut das weh! Wo sind meine Ibufeen? Nach längerem Kramen werde ich fündig. Es dauert  lange, bis es nicht mehr ganz so sehr schmerzt und ich wieder einschlafen kann.

 

Kurz nach 11:00 Uhr hatte ich wiederum in Doc Palme grünem Stuhl eingecheckt. Sei­nem  fröhlichen "Und heute beschäftigen wir uns weiter mit den beiden Wurzeln oben…" hielt ich mein Drachenproblem entgegen. Ich schilderte die heftigen Beschwerden der letz­ten Tage und Nächte und bat um Entfernung des Terroristen. "Das Stochern am Donnerstag hat die Entzündung getriggert – aber es wäre sehr, sehr schade um die Wurzel!", entgegnete der Zahndoc. "Ich möchte mit diesem Zahnrest nicht noch älter werden. Er hat mich früher schon heftig gequält!" "OK, ich sehe mir das an. Aber dann machen wir heute nichts ande­res!"  

 

Leider beschränkte er sich nicht nur auf’s Gucken, sondern drückte mit dem Finger auf das entzündete, geschwollene Zahnfleisch. Ich stöhnte vernehmlich. "Das tut weh, ich weiß." Auch das Durchpusten des Kraters war mies, aber als er Wasauchimmer tief in den Krater drückte, wimmerte ich laut. "Ist gleich vorbei. Wenn Sie den Zahn loswerden wollen, ziehe ich ihn. Aber das wird wegen der umgebenden Entzündung nicht einfach. Die Spritzen werden auch sehr wehtun!" Auch das konnte mich nicht von meinem Entschluss abbringen, zumal der Drache nach den neuesten Provokationen ausgelassen Feuer spuckte.

 

Die Spritzen waren mörderisch. Nach Aufklärung und schriftlicher Einwilligung ging es dann mit der Prämolarenzange los. "Das kann dauern, ich muss den Zahn zunächst lockern!", warnte mich der Doc. "Noch können Sie zurück!"  Ein entschiedenes "äh äh" aus meinem offenen Gebiss ließ ihn weitermachen. Dirk Palme versuchte es daraufhin mit der Mitleids­tour, indem er mir schilderte, wie traurig er jetzt sei. Juckte mich kein bisschen. Die Mani­pulationen in meinem Maul fühlten sich grauslich an. "Noch können  Sie den Zahn behal­ten…?" Wollte ich aber mitnichten.

 

Die Tortur ging weiter bis zu Doc Palmes erlösendem "Jetzt ist es zu spät!" Er hielt mir den Übeltäter vor die Nase. Welch Erleichterung!!!   Ich muss wohl ausgesehen haben wie ein satter Vampir, denn Nadine säuberte erst einmal ausgiebig meinen tauben linken Mundwin­kel und das Kinn. Was für ein Gemetzel!

 

Auf des Zahndocs Frage nach dem Festival erwähnte ich noch beiläufig, dass ich von einer Konsultation des Hufschmiedes wegen Grobschlächtigkeit des Kerls und seiner Werkzeuge abgesehen hatte. Behielt aber für mich, dass ich stattdessen Rat und Hilfe beim Klerus ge­sucht hatte *grins*. 

 

Nach weiteren Worten des Bedauerns über den Verlust  von Smaugs Ruine gab mir Doc Palme ein "Sie kommen aber wieder – sonst rufe ich Frau Ebert an!" mit auf den Weg.

 

Klar komme ich wieder. Heute in zwei Wochen!

 

 

27. September 2016

Taub ist mein Maul erst, seitdem ich die Zahndoc-Praxis grinsend verlassen habe. Nach dem ersten frustranen Versuch, mit einer Leitungsanästhesie die Sensibilität im rechten Unter­kiefer auszuschalten, widmete sich ein bestens aufgelegter Doc Palme zunekst der Fortset­zung der Wurzelbehandlungen der beiden Schneidezähne 12 und 22. Ohne Betäubung, juchuh. Der provisorische Zementverschluss wurde aufgebohrt; Wasserfontänen sprudelten lustig. „Hamse heute schon was getrunken? Falls nicht, jetzt ist die Gelegenheit…“ „Gur­gelschluckgrumpfröchel!!!“ Danach wurden wieder Voodoofeilen in die Krater gebohrt. Nr. 12 lebte offensichtlich. Ich auch – noch. War aber knapp. Danach wurden schicke Moment­aufnahmen der Krater mit Feile intus geröntgt. Einer nach dem anderen, versteht sich. Da­nach Fremdkörper ex orem. Erleichtert klappte ich meinen Mund zu.

Aber nur kurz, denn es drohte bereits die Riesenspritze mit dem neksten Narkoseanschlag auf meine lange Leitung unten rechts. Hausnummer 47 (kariöser Backenzahn mit vorsint­flutlicher Amalgamfüllung) hatte sich bereits vor einiger Zeit von einem Bruchstück befreit, so dass der agile Nerv in den letzten 10 Tagen lebhaft meine Nahrungsaufnahmeversuche dokumentiert hatte. Sanierung tat Not. Aber ohne Betäubung…? Noch immer zeigte sich der angeschossene Nervus alveolaris inferior als Teil des N. mandibularis  (3. Ramus des N. tri­gemini)  rechts BTM-resistent. „OK“, meinte Doc Palme, „dann ärgere ich Sie jetzt mit einer intraligamentären Anästhesie.“ Es wurden rund um den Übeltäter fiese Spritzen gesetzt. ENDLICH meldete Nr. 47 sich ab und der nekste Zahnspaß ("Je wehleidiger der Patient guckt, desto mehr Spaß macht es mir" -> O-Ton Doc P.) nahm seinen verhängnisvollen Verlauf. Amalgamfüllung raus, Karies weg… nee, ging leider nicht, weil zu tiefsitzend. Kamera ins Maul, damit auch ich das Ausmaß des gefräßigen Verfalls sehen konnte. Pöse! Folglich keine Krone für den maroden Molaren, sondern  eine weitere Wurzelbehandlung, die auf der Stelle initiiert wurde. Ich sah dem exstirpierten Molarennerv  beim Verlassen meines Mun­des zu – fort mit Schaden. Krater 47 wurde gespült und mit Medis abgefüllt – mein 1. und einziges Frühstück bisher (12:30 Uhr). Danach wurde der Krater provisorisch verschlossen. „Nüsse knacken könnense damit nicht!“ Ach was?


Überhaupt war dieser Viereinhalbstundentermin (subjektiv so empfunden) ein sehr unter­haltsamer. Doc Palme hielt mich mit Frechheiten bei Laune. Leider hat mich eine retrograde Amnesie die meisten schon wieder vergessen lassen. Immerhin bin ich seit gestern senil; anders lässt sich mein verpeilter Schmatzfonverlust im Leipziger Zoo anlässlich meines 52. Geburtstages nicht erklären. Jedenfalls wusste der Zahndoc das Gespräch in Gang zu halten. Er zeigte sich baff erstaunt, dass ich Ines Freundin aus Frankfurt bin und tatsächlich jedes Mal die etwas längere Anreise auf mich nehme. Er erklärte dieses Erstaunen mit einer lan­gen Leitung und erkundigte sich neugierig, woher ich Frau Ebert denn überhaupt kenne. Seltsamerweise wunderte er sich, dass ich aufgrund der vielen Finger, Instrumente und Saugröchler im Mund nicht antwortete. „Ich will nämlich immer alles ganz genau wissen!“, setzte er nach. "Sie können später antworten."  Also wartete ich grinsend ab, bis mein Mund nicht mehr ganz so voll war (Kinderstube!) und teilte ihm mit, wie alles begann und wozu das führte. „Ah, meine Teleskopfreundin ist Ihre Partnerin!“ – allerdings ist sie das! Die Be­handlung ging weiter und ich erfuhr, dass auch Doc P. seine Freundin aus dem Internet hat und sie inzwischen einen Sohn haben. Richard, 7 Monate alt. Schön!


Nebenbei wurden scheußliche Arbeiten an den beiden Schneidezähnen oben durchgeführt. Ich befürchtete bereits eine Kieferklemme und sah mich schon mit weit offenem Maul im ICE sitzen. Mein rechtes Bein war bei dem ganzen Stress auch schon fast von der grünen Pritsche gefallen. Krampfhaft versuchten meine Hüftmuskeln es zu halten, bis ich schließlich auf die Idee kam, es einfach umzulagern.


Im weiteren Verlauf der ein wenig einseitigen Unterhaltung gab der Doc zu, doch sehr frech zu sein. Ich äußerte bei der neksten sich bietenden Gelegenheit, dass er mich gerade mit dieser Eigenschaft davon überzeugt hatte, mich nach 30 Jahren Dentistenabstinenz von ihm behandeln zu lassen. Kanner sich was drauf einbilden. Wobei es aber auch seine überzeu­gende Kompetenz und sein durchaus vorhandenes Einfühlungs-vermögen waren,  die mich Vertrauen zu ihm fassen ließen (siehe 11. Juli 2016).


Siebeneinhalb Schwänke und Kicherversuche meinerseits später waren dann auch die bei­den Kandidaten oben provisorisch ausgestopft. Demnächst bekommen sie teure Stifte. Bis­her habe ich mein Krankenkassenbudget in diesem Quartal mehr als ausgereizt, was ich dem kompetenten Doc gegenüber nicht fair finde. Er selbst fand das nicht ganz so schlimm. Wir sprachen daraufhin über die demnekst anfallenden Kosten und ich erfuhr, dass schon di­verse Patienten mit teuren Ersatzteilen einfach nicht mehr wiedergekommen seien und ihn auf den Kosten sitzenbleiben ließen. Sauerei sowas, finde ich. Das hat der Doc beileibe nicht verdient.


Kurz vor Mittag (objektiv so empfunden) stützte ich mich schließlich ohne Sabberlatz etwas schwindlig auf die grüne Pritschenlehne und unterhielt mich noch ein wenig mit dem elo­quenten Doc. Wie eingangs ihm gegenüber geäußert, wundere ich mich jedes Mal wieder, dass ich sämtlichen Torturen zum Trotz immer wieder auftauche, um seine Frage, ob ich mich schon auf die Behandlung freue, mit einem grinsenden „Ich frohlocke!!!“ zu beantwor­ten. Das nekste Mal am 17. Oktober.


Stay tuned!


PS: Insgesamt war ich den Taten des Schlächters von Connewitz heute eine geschlagene Stunde lang ausgeliefert.


PPS: Mein Maul ist wieder zu sich gekommen. Es lässt sich nur noch einen Spalt öffnen. Der Kieferwinkel klemmt.

 

PPS: Im Verlauf der Zugfahrt fanden doch noch ein Pudding und ein Brot mit Ziegenkäse ih­ren Weg in meine Futterluke.

 

 

 

17. Oktober 2016 

Corpora aliena tummeln sich seit ein paar Stunden in meinem Maul und sind noch nicht so ganz bei mir angekommen. Sie lassen mich ein wenig lißßßpeln und quittieren meine Nah­rungsaufnahme mit Erstaunen. Mein Spiegelbild meint, dass ich nicht mehr aussehe wie ein Tacker, sondern wie ein Mensch mit Schneidezähnen. Ein ungewohnter Anblick, der Ines durchaus entzückt. Ich traue den beiden provisorischen Hauern noch nicht so recht. Immer­hin haben wir gerade im Zug Kartoffelstampf Mexiko – Togo unfallfrei in den Bakenmagen bekommen.


Meine Beklommenheit hielt sich noch in Grenzen, als ich um 9:30 Uhr in Connewitz Richtung Zahnspaß Folge VII spazierte. In der Praxis war ungewohnt viel los, irgendetwas lief wohl nicht so ganz nach Plan und so wartete ich außergewöhnlich lange. Zeit genug, um Flucht­gedanken zu hegen – und dann wieder zu verwerfen. Doc Palme zeigte sich ruhiger als sonst. Undefinierbarer Stress lag in der Luft herum und so nahm ich artig Platz. Mein Zahn­doc teilte mir mit, dass heute die wurzelbehandelten Hausnummern 12 und 22 mit Glasfa­serstiften versorgt werden würden. Danach bekämen diese zahnähnliche Verkleidungen. Nun gut. Mein Kopf näherte sich dem Fußboden und das Drama nahm seinen Lauf. Die alten Lückenbüßer aus Zement flogen raus. Links motzte ein (ungezogener) Nerv. Danach vibrierte es rechts schauderhaft und ich fürchtete mich schon sehr vor der gleichen Prozedur bei Nr. 22. Jau, das wurde sehr viel schlimmer. Ich zuckte und muckte. „Tut das weh? Da müsste doch alles mausetot sein!“ Keine Ahnung, ich lebte jehntfallz noch ein bisschen und wurde womöglich von einem Zombienerv gequält. Doc Palme vibrierte vorsichtig weiter. „Können Sie das aushalten…?“ Ich grunzte verzagt, aber zustimmend. Ich sollte ein Zeichen geben, wenn es nicht mehr ging. Es wurde schlimmer und dAUerte scheußlich lange, aber ich riss mich zusammen. 'Das ist nun die Buße für die langen Jahre Zahnarztschwänzen', ging es mir traurig durch den Kopf.

 

Danach wurden die beiden Baustellen mit Phosphorsäure gespült. „Machen Sie die Augen zu, sonst sind wir nachher keine Kumpel mehr!“ Das wollte ich keineswegs riskieren, auch nicht, dass sich Ines den Doc wegen einer Nachtlichternekrose womöglich würde vorneh­men müssen.
Was danach alles in meinem Maul passierte, weiß ich nicht, denn Herr Palme zeigte sich un­gewohnt wortkarg. Es fühlte sich an, als ob Dübel in meiner Kauleiste verankert wurden. Als nekstes kam ich mir vor wie ein kaputtes Auto in der Werkstatt. Doc Palme zog meine locke­ren Schrauben an. Oder waren es die Stifte? „Frau Versen, Sie machen das wieder ganz fein!“ Nach gefühlten drei Stunden sollte ich den Mund weiter öffnen. Ups, der war mir fast zugeklappt. Meine Unterlippe zitterte, ich war erschöpft und total verspannt. Durch sozusa­gen. Ersatzteile wurden in mein Zahnfleisch gedrückt, eine Art Heißklebepistole gelangte in mein Blickfeld. Die teuren Stifte wurden verkleidet, der Zement geschliffen. Immer und im­mer wieder. Ich sollte den Mund schließen, die Lippen aber offen lassen. Hä? Ach so, Zähne zusammen. Ging aber nicht, 22 war noch zu lang. Also wurde er gekürzt, bis es passte. Ich erfuhr, dass diese Provisorien noch nicht so schön aussehen und die Stifte später überkront würden. „Aber sehen Sie selbst!“ Zurück in sitzender Position wurde mir ein Spiegel in die Hand gedrückt und ich erblickte… schneidezahnähnliche Teile in meinen beiden auffälligsten Lücken.


Bevor Herr Palme die beiden Corpora aliena schließlich noch röntgte, vereinbarten wir, an dieser Stelle die Behandlung für heute abzubrechen. Die nächste Wurzelfüllung wollte mein Zahndoc nicht unter Zeitdruck vornehmen, was mir durchaus Recht war. Die neksten Patien­ten warteten schon und ich hatte buchstäblich die Schnauze erst einmal voll, aber sowas von.
Am 17. November werden wir zwei Stunden Zahnspaß haben – meine Fresse!!!


Lieber Herr Palme, wenn Sie diese Soap Opera al dente jemals lesen sollten, möchte ich, dass Sie wissen, dass ich allen hier geäußerten flapsigen Frechheiten und schnoddrigen Ver­ballhornungen zum Trotz Ihre freundliche Professionalität und Kompetenz ernsthaft zu schätzen weiß. Es bedeutet mir sehr viel, dass ich Ihnen vertrauen kann. Herzlichen Dank dafür!


Bis zum nächsten Mal – und dann wieder mit einem Lächeln.

 

 

17. November 2016

"Mir hat richtig was gefehlt, ich hatte schon Entzugs-erscheinungen! Vor kurzem habe ich mich in der Firma tatsächlich vor dem Kaffeeautomaten dabei ertappt, mich danach zu sehnen, in diesen grünen Stuhl zu sinken, die Klappe zu öffnen und ansonsten gar nichts tun zu müssen", erzählte ich heute Morgen um kurz nach 10:00 einem leicht ungläubig grinsenden Doc Palme. Genau dieser Genuss stand mir nun nach einer langen, arbeitsbedingten Auszeit von mehr als vier Wochen bevor und ich sank (noch) lächelnd in die Quälnessliege. Wie sonst lässt sich so ein Urlaub angemessen beginnen...

 

Der Doc konsultierte meine Unterlagen und war sich nicht so ganz sicher, womit er uns heute bespaßen wollte. Wurzelfüllung links unten konnte nicht sein, der Delinquent war be­reitz expolkiert. "Machen Sie, was Sie wollen", bot ich an und öffnete mein optimierungsbe­dürftiges Maul. "Sagen Sie so etwas niemalz zu einem Zahnarzt", grinste Dirk Palme. Ich wies freundlich darauf hin, dass wir uns um den Kunden unten rechts, Nr. 46, kümmern wollten. "Das geht ohne Betäubung, oder...?" WTF... Die Frage, ob er den Nerv schon gezogen hatte oder nicht waberte durch den Raum. "Wir gucken uns das mal an", leitete Doc Palme die Behandlung ein. Er bohrte lustig drauf los. Das fühlte sich nicht gut an, tat aber eigentlich auch nicht weh. "Geht das noch?" Ich nickte, die Bohrungen gingen weiter. Es fiel mir heute schwer, den Mund so weit offen zu halten; es strengte mich schon nach kurzer Zeit sehr an. Mein Kinn zitterte, die Unterlippe machte mit. "Sie zittern ja, Sie Arme – Sie erwarten, das gleich etwas Furchtbares geschieht. Das tut mir fast leid. Aber nur fast!" Nichts geht über einen derart empathischen Zahnarzt.

 

Die Behandlung war und blieb scheußlich und ich änderte spontan meine Entspannungs­wünsche. Vodoofeilen fanden ihren Weg in Nr. 46s Krater und ich durfte meine erschöpfte Klappe nicht schließen. Ging auch nicht, die fies verankerten Metallteile waren im Weg; ich musste das natürlich ausprobieren. Ich glaube, dieses Mal hat er sie in den Knochen ge­bohrt. Sein "Ich muss das jetzt tun...",  baute mich nicht gerade auf. Aber – es ging. Vanessa röntgte anschließend die Wurzelverhältnisse und war danach so lieb, mich von dem Metall zu befreien. Welch Genuss, den Mund wieder schließen zu dürfen. Alles ausgetrocknet, mein Blutzucker lag bei gefühlten 350 mg/dl. Ich hatte auch dieses Mal nicht nur sowieso schon sehr viel Angst, sondern befürchtete – wie immer - obendrein eine Unterzuckerung während der Behandlung. Drum hatte ich bewusst weniger Insulin für das Frühstück ge­spritzt und mich vor dem Abmarsch noch mit 250 ml Orangensaft gedopt. Denn wie sollte ich im Falle einer heimtückischen Hypoglykämie mit 24 Fingern, 32 Instrumenten und auf­gebohrten Zähnen im Maul, in denen der Zahnzement trocknen soll, Kohlenhydrate auf­nehmen? Die Alternative, auf eine Hypo nicht zu reagieren, wäre fatal. So einen Notfall braucht kein Mensch, nicht einmal ein Zahnarzt.

 

OK, egal, ich würde den zu hohen Wert hinterher korrigieren und 4 Hektoliter zuckerfreie Pirattenbrause trinken. Der Durst war mörderisch und schlecht war es mir auch. Die freund­liche Plauderei mit Vanessa entspannte mich ein bisschen. Sie entwickelte die Röntgenauf­nahme und nach einem "Laufen Sie jetzt bloß nicht weg, ich bin gleich wieder da" vom Doc ging das Drama Wurzelbehandlung weiter.

 

Der Krater wurde gereinigt, desinfiziert, tief im Unterkiefer geschahen für mich nicht nach­vollziehbare Dinge, bevor Doc Palme und Nadine anfingen, die Wurzel zu füllen. Mein Kinn wollte schon wieder zittern und ich ganz woanders sein. Dieser Quälnessmorgen tat weder meinem Kadaver noch meiner psychischen Restgesundheit gut. Der Stress der letzten Wo­chen und insbesondere der letzten Tage haben mir sehr deutlich meine Belastungsgrenzen gezeigt. Meine Wörk-Leif-Bälänce-Wippe hat in der letzten Zeit zugunsten der Arbeitgeberseite eine tiefe Schlucht in den Spielplatzboden meines Daseins gegraben. Hinzu kommt ein erheblicher Schlafmangel und überhaupt bin ich urlaubsüberreif... OK, diesen Termin hatte ich so vereinbart, also Zähne zusammenbeißen – bloß wie...?

 

Inzwischen drückte Doc Palme qualmende und stinkende Höllenlava in den Krater. Inverser Vulkanausbruch...? Immer und immer wieder. Zwischendurch bereitete Nadine andere Dinge (Guttapercha und Konsorten) vor und ich überlegte, wann denn so ein Krater endlich abgefüllt ist. Ich durfte den Mund nicht schließen. Ach so? Endlich sah ich Blaulicht (nein, nicht die Rettung), sondern eine Art Lötkolben, dessen Licht die Wurzelfüllung härtet. Da­nach konnten meine Kiefermuskeln entspannen, aber nicht lange. Der Doc konstatierte, dass meine vordere untere Kauleiste diverse Durchschüsse aufwies. Er bot mir an, mit der Behandlung dieser Schäden zu beginnen. "Alle schaffe ich heute leider nicht mehr. Das müs­sen wir dann das nächste Mal beenden." Interessiert fragte ich, was denn nun mit der Zahn­ruine 44 sei. "Noch ein Wurzelrest?" Irritiert betrachtete der Doc das bei meinem 1. Besuch erstellte Röntgenbild mit dem ganzen Bakenelendsgebiss. "Hier ist nichts zu sehen. Aber – Sie haben Recht, das muss noch raus. Wollen wir das heute machen und die vorderen Schneidezähne dann das nächste Mal?" "OK", grinste ich. "Dann machen wir das nächste Mal die Durchschussbehandlung. Vielleicht bin ich den dann los...?"

 

Das Grinsen verging mir schnell, denn nun kamen die Mörderspritzen. Die erste war gut zu ertragen, die zweite mitten in den Wurzelrest tolerierte ich nicht. "Ich muss aber noch eine setzen", entschuldigte sich der Doc. Er versuchte es etwas weiter unten. Das ging. Die Zahn­ruine war ratzfatz draußen. "Nadine, werfen Sie das bitte nicht weg. Das müssen wir reini­gen, einschweißen und in Frau Versens Akte legen. Es sei denn, Sie wollen das unbedingt mit nach Hause nehmen?" Er erklärte mir, dass dieses Beweisstück im Falle einer Abrechnungs­kontrolle notwendig sei, weil auf der Röntgenaufnahme nichts zu sehen war und er natür­lich nicht wollte, dass ihm ein Abrechnungsbetrug unterstellt werden könnte. Ich verzichtete daraufhin großzügig auf die kleine Zahnruine und schöpfte Hoffnung, demnächst wieder zu Ines nach Hause gehen zu dürfen. Zunächst wurde die wurzelbehandelte Nr. 46 jedoch noch einmal geröntgt. Vorher versicherte mir Dirk Palme, dass es ihm wieder einmal sehr viel Spaß mit mir gemacht habe, auch wenn er wisse, dass dieses Vergnügen ein einseitiges sei. Patienten wie Ines und ich seien bei ihm immer herzlich willkommen – im Gegensatz zu so manchem Stinkstiefel. Fröhlich verabschiedete sich mein Zahndoc. Die Röntgenaufnahme ging schnell und dann durfte ich aufstehen. Ging aber kaum, mein Kreislauf war dagegen. Ich muss wohl ziemlich blass ausgesehen haben, denn Nadine zeigte sich besorgt. Meine Füße trugen mich dann aber doch noch und so vereinbarten wir den Termin der nächsten Folge Al dente für den 12. Dezember.

 

Ich wankte fix und fertig nach Hause, kippte mir einen Hektoliter Pirattenbrause hinter die taube Unterlippe und testete den Blubbzucker. 70 mg/dl – nicht gerade viel. Ohne die O-Saft-Druckbetankung vor dem Zahnspaß wäre dieser auf jeden Fall in die Hose gegangen, Schwein gehabt. Also noch ein bisschen Doping und dann den Kadaver auf dem Sofa ge­parkt. Ging aber nicht, denn Mephi, Ines‘ schwarzer Katermacho, hatte es sich hinter dem Couchüberwurf gemütlich gemacht und duldete keinen aufdringlichen Besuchsmenschen an seiner Seite. Er knurrte mehrfach vernehmlich, so dass ich meine Baken ins Bett verkrü­melte. Danach war ich für drei Stunden ganz weit wech.

 

Dennoch werde ich die nächste Folge meiner Seifenoper al dente auf keinen Fall verpassen, zumal Ines heute ebenfalls einen Kontrolltermin bei unserem gemeinsamen Palme für den­selben Tag vereinbart hat. Der arme Mensch wird sich vor Rumpentrumpens nicht retten können!

 

Post Scriptum 18. November 2016: 

Mein Gebiss ist seit gestern üprinx mit Bluetooth ausgestattet. Die Aufbaufüllung von Nr. 46 strahlt in leuchtendem Blau!

 

 

12. Dezember 2016

 Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage,

rühmet, was heute der Höchste getan!

Lasset das Zagen, verbannet die Klage,

Stimmet voll Jauchzen und Fröhlichkeit an! 

 

Neinein, keine Angst, auch wenn ich hier das Weihnachtsoratorium eines Leipzigers zitiere, bedeutet das nicht, dass meine Soap Opera al dente in fromme Sphären driftet; geschweige denn, dass ich anfange zu singen. Leute, die mich näher kennen, wissen, dass ich aka Nali Bakenfalter aka nachtlichter aka … u. a. Frau Versen niemalz übertreibe und meine Wortkargheit nahezu sprichwörtlich ist.

 

Also beruhigt weiter Juchheißen – denn die heutige Durchschussbehandlung war ein voller Erfolg! Nun ja, mein fragwürdiger Geisteszustand ist der alte geblieben, aber meine vorderen Schneidezähne unten können sich wieder sehen lassen. Ich gehe seit heute Vormittag an keinem Spiegel vorbei, ohne das ehemalige Sieb zu blecken und die weißen Teile in der Mitte meines Unterkiefers breit grinsend zu bestaunen. Inzwischen ist es Abend und ich sitze im ICE nach Hause. Die wieder erwachten Nerven der behandelten Zähne beschweren sich über den letzten Zahnspaß dieses Jahres.

 

Doc Palme hat heute Vormittag alle Register gezogen, nachdem ich mit interessierten Fragen nach dem Procedere im Hinblick auf ein zahnreicheres Gebiss einigermaßen erfolgreich die zu erwartenden unangenehmen Bohr- und Restaurierungsarbeiten an den durchschossenen Schneidezähnen prokrastinieren konnte.

 

Das schwarze Schwein (Nr. 26, vorletzter Backenzahn oben links) beunruhigt mich schon länger. Er weist ein ungesund gruftiges Kolorit auf und hat auch schon übelriechendes Sekret unter der uralten Amalgamfüllung produziert und von sich gegeben. ‚Zahnbrand‘ hatte Ines gewohnt treffend diagnostiziert. Mindestens. Dieser Kandidat wird das nekste Mal eingehend unter die Lupe genommen. Dummerweise bin ich auf diese Hausnummer angewiesen, weil er laut Zahndoc ein Kauzentrum ist. Übrigens mein einziges im Moment, denn den anderen noch vorhandenen Molaren fehlen die jeweiligen Anfresspartner gegenüber. Weiterhin fragte ich beiläufig, ob das häufige Aufmucken des wurzelbehandelten und mit einem Glasfaserstift verstärkten provisorischen Fakezahns 22 normal sei. "Nein, das ist es nicht", antwortete mir Dirk Palme und untersuchte den Querulanten genauer. "Das müssen wir beobachten." Ich glaube ja noch immer an einen Zweitnervus occultus. Der Typ ist noch lange nicht tot. Oder ein heimlicher Zombie.

 

Nachdem ich mich dann auch noch nach der Rechnung für die Fiberglasstifte erkundigt hatte, gingen mir leider die Fragen aus. Da wir sowieso gerade über die kranken Kassen gesprochen hatten, regte ich noch an, diese nach einem Bonus zu befragen, da ich ja schließlich fast 30 Jahre überhaupt keine Kosten verursacht hätte. Grundsätzlich fand Herr Palme den Ansatz nicht so ferkert, gab jedoch zu bedenken, dass gerade meine Vernachlässigung der Zähne zu den verwahrlosten Missständen in meinem Mund geführt hatte… dem konnte ich natürlich nicht widersprechen und so war jetzt leider Schluss mit dem gepflegten Smalltalk.

 

Drei gemeine Spritzen schalteten die Nerven in der Mitte des Unterkiefers aus. "Die Kariesbehandlung im Frontzahnbereich ist eine Kassenleistung. Darum können wir uns richtig Mühe geben, das zahlen die!", grinste Doc Palme. Flugs wurde der Bohrer gezückt und ich schluckte fleißig Spritzwasser. Schlimm waren die tiefschürenden Bohrungen nicht, nur unangenehm. Nach einiger Zeit durfte ich mir das Ergebnis im Spiegel ansehen. "Wollen wir diesen Schweizer Käse so lassen?", fragte Dirk Palme frech. "Nein, so bin ich schon lange genug herumgelaufen", entgegnete ich. Also begann mein zielstrebiger Zahndoc mit einer aufwendigen Füllungsbehandlung. "So viele Füllungen mache ich sonst in einer Woche", warf er wenig später in den Raum. Es war mir ja schon ziemlich peinlich, über eine so hohe Durchschussrate zu verfügen…

 

"Das wird jetzt dauern", vernahm ich, seufzte lautlos und baute meine Verspannungen aus. Schicht für Schicht wurden meine Löcher gestopft. Nach jeder Schicht wurde die Masse mit UV- Licht gehärtet. Hierbei arbeiteten der Zahndoc und seine zuvorkommende Assistentin Nadine wieder einmal perfekt zusammen. Und doch wäre ich jetzt viel lieber schon…

 

"Sie machen das ganz, ganz fantastisch!", unterbrach Herr Palme meine Gedanken. Ich versuchte freundlich zu grinsen. Ich fand es tröstlich, dass er mich immer wieder fragte, ob es denn noch gehe. Ein Hustenreiz juckte unpassend, verging zum Glück aber schnell wieder. Und noch eine und noch eine und noch eine Schicht… Zwischendurch erklärte mir der Doc, dass diese vielen Schichten wegen der Plastikschrumpfung erforderlich seien… Plastik? Egal, mit Jute wäre das Kauen später sicher unangenehmer. Es roch seltsam nach Kunststoff und schmeckte mir überhaupt nicht. Meine Zungenspitze trocknete langsam aber sicher aus und mein Mund wollte zugeklappt werden. Das ging aber wegen der Vielzahl der Sauger, Kellen, Spachtel, Schaufeln…[gehtz noch, Frau Bakenfalter? Anm. der Redaktion] ähemm Instrumente in meinem Mund mitnichten. Ach so, zwischen meinen Vorderzähnen unten klemmten inzwischen obendrein unbequeme Matrizen – alles in allem hatte ich das Maul schon wieder viel zu voll genommen. Es wurde fröhlich weiter gespachtelt und gehärtet.

 

Zur Auflockerung gab mein Zahndoc wiederum zum Besten, dass ihm die Arbeit mit mir besonders viel Spaß mache. "Sie sind freundlich, meckern nicht rum und sind halbwegs dankbar. Das ist schön, denn da gibt es ganz andere Zeitgenossen, die sich ständig über alles beschweren. Da macht das Zahnarztsein keinen Spaß." Kurze Pause. "Ein bisschen mehr Jaulen könnten Sie allerdings noch, dann wäre das Ganze noch viel schöner!!!" Angehörts dieses 'Palme des Tages' gackerte ich ungeachtet sämtlicher Fremdfinger und- körper in meinem Maul schallend los und beschloss, bis zum neksten Termin jämmerliches Wehklagen einzustudieren, um endlich auch dem kleinen Sadisten im Palme gerecht werden zu können.

 

Nachdem Nadine noch einmal sämtliche Füllungen mit dem UV-Licht ausgiebig gehärtet hatte, war endlich Schluss mit der unangenehmen Völle- nein Füllerei. Matritzen, Instrumente, Finger raus. Ein Moment trügerischer Ruhe. Fertig…? Ich hatte das Wort noch nicht ganz zu Ende geträumt, da begann Dirk Palme die behandelten Zähne zu schleifen, was das Zeug hielt. Schön ist anders. Ich schielte zur Wanduhr. 10 geteilt durch 45 – lange konnte dieser Zahnspaß doch wohl nicht mehr dauern!!!

 

"Und nun kommt das Beste – die Eierfeile." Es handelte sich hierbei um ein mechanisches Teil, das sich anfühlte wie eine mit grobem Schmirgelpapier bestückte Feile – und das an meinen gerade renovierten Zähnen!!! Zwischendurch sollte ich mit meiner Zunge fühlen, ob ich scharfe Kanten entdecken würde. Das tat ich nicht. Noch ein paar abschließende Feilereien und dann sah ich sie im vorgehaltenen Spiegel zum ersten Mal – heile weiße Zähne ohne dunkle Durchschüsse! Begeistert zollte ich Doc Palme und Nadine sowohl Respekt als auch Bewunderung für ihre geniale Arbeit und ließ sie wissen, dass ich keineswegs nur halbwegs dankbar sei. Wir verabschiedeten uns herzlich voneinander und wünschten uns schöne Weihnachten.

 

Die zweite Seifenoper - Staffel wird am 16. Januar 2017 mit der Folge "Das schwarze Schwein ist dran" beginnen. Während dieses Termins besprechen wir die Ersatzteilversorgung mit Kronen und Prothesen. Wenn alles gut läuft, habe ich vielleicht schon im Frühjahr richtig viele Zähne im Mund, so dass ich dann nur noch 2 x jährlich zur Kontrolle kommen muss… So wie Ines heute Morgen. Wie habe ich sie beneidet…

 

Unglaublich, diese Entwicklung, die ich mir noch vor einem Dreivierteljahr nicht hätte vorstellen können. Und wollen. Im Gegensatz zu Doc Palme finde ich nicht, dass sich meine Gebissrenovierung schon sehr lange hinzieht. Ich kann leider nicht noch öfter im grünen Liegestuhl entspannen; schließlich muss ich nebenbei auch noch die Kohle zur Finanzierung der Zahnersatzteile verdienen. Außerdem liegt Frankfurt nicht gerade um die Ecke. Dennoch - im letzten halben Jahr habe ich dank Ines und Dirk Palme meine Zahnarztphobie verloren. Angst habe ich noch immer, aber mit ihr kann ich jetzt umgehen.

 

Wie schon gesagt – ich bin Ihnen keineswegs nur halbwegs dankbar, Herr Palme. Ich wünsche Ihnen und Ihren Lieben eine schöne Zeit.

 

 

10. Januar 2017

Zahnspaß in Gefahr?

(Gedanken zum Artikel „Scientists Have Found a Drug That Regenerates Teeth, And It Could Reduce The Need For Fillings“ by Josh Hrala, 10 JAN 2017, gefunden auf www.sciencealert.com)

 

Keine Angst, geneigtes Lektorium, diese Soap Opera al dente wird zu Ende geschrieben, bevor die Ethik-Kommissionen und Competent Authorities (BfArM, FDA und Konsorten) dieser Welt von Wirksamkeit und Sicherheit des Inhibitors Tideglusib als Zahnregenerator überzeugt sind und diesen auch für diese Indikation zulassen.

 

Wobei die Tatsache, dass stimulierte Stammzellen gern auch auf unerwünschte dumme Ideen kommen, nicht unterschätzt werden sollte.

 

Vielleicht werde ich mich im Rahmen meiner aufopferungsvollen beruflichen Tätigkeit eines Tages um die administrativen Belange der folgenden klinischen Studie kümmern:

"A Multicenter, International, Phase III, Double-Blind, Placebo-Controlled, Randomized Study to Evaluate the Efficacy, Safety and Tolerability of Tideglusib Input in Lochfraß-Affected Teeth"...

 

Und vielleicht hilft mir eines fernen Tages, wenn mich Doc Palme im Greisenheim konsultiert, der in einen porösen Zahn eingebrachte Inhibitor auch gegen einen eventuell vorhandenen Alzheimer...

 

 

 

16. Januar 2017

Blue Monday, hey! Meine Arbeitswoche beginnt erst morgen. Klasse! Ungünstig ist nur, dass ich nach einem entzückenden Wochenende mit Ines trotzdem früh aufstehen musste. Am Samstag hatten wir uns mit Buschra (aus dem Irak) und Parisa (aus dem Iran) in einem arabischen Café getroffen. Die beiden hatten Ines bei ihrer Arbeit in der KV-Ambulanz für Flüchtlinge als Arabisch- und Farsi-Dolmetscherinnen unterstützt. Wir hatten unglaublich viel Spaß miteinander und ich habe die Geschichten, die Parisa und Buschra uns Ausländerinnen von ihren früheren Leben im Orient erzählt haben, aufgesogen wie ein ausgetrockneter Schwamm. Was für eine Bereicherung für eine begeisterte Kosmospilotin wie mich… 


Heute stand mir wiederum eine Kommunikation der ganz anderen Art (teilweise wieder mit unhöflich vollem Mund) bevor. Ich hatte insbesondere den Sonntagabend genutzt, jämmerliches Jaulen und weinerliches Wehklagen zu üben. Und Ines mit sachlichen Begründungen, warum ich keinesfalls zum Zahndoc kann, zu überzeugen. Gelungen ist mir beides nicht. Drum fiel ich nach einem spochtlichen DuschenFönenNixwieindieKlamotten-Endspucht japsend, aber pünktlich um 08:15 Uhr in der Zahnspaß-Praxis ein, nur um meiner Verpeilung sei Dank zu erfahren, dass der Termin eine Stunde später stattfinden sollte. Nix wie wech… neinein, ich habe nicht gekniffen, sondern ein paar Schritte weiter Richtung Meckelbeck in Ruhe einen Eimer Kaffee genossen.

 

[Off topic: Irgendwann schenke ich den durchsagenden ICE-Zugchefs, die ständig meinen Schreibfluss stören, eine Tüte englischer Präpositionen, die sie nach Belieben verwenden dürfen; Hauptsache, mir tut "…on bord se Eißi iiih oder wi ärreif Berlin-Spandau" nicht mehr ohne begleitendes Verhältniswort in den Ohren weh…]

 

Nach einem kleinen Spaziergang durch den Schneematsch waren wir dran – ich und das schlotternde schwarze Schwein. Zunekst lobte Doc Palme meine objektiven Zusammenfassungen unserer Termine (also diese kleine Seifenoper al dente) und unterstellte mir Begabung, worüber ich mich sehr gefreut habe. Danach ging es erst einmal schmerzlos weiter mit einer Befunderhebung der noch in meinem Maul verbliebenen Kandidaten und ihrer expolkierten Kameraden. Kurze Zeit später wurden Nr. 14 (kontaktkariös) sowie große Teile meinen rechten Oberkiefers sowie meiner halben Lippe mit Hilfe einer fetten Spritze narkotisiert. Das schwarze Schwein (Nr. 26) hingegen blieb bei Bewusstsein, wurde ab-, nein, angestochen und ausgenommen. Mein linkes Maul bekam oberhalb des kränklichen Molaren eine Wattepolsterung. Ein schickes Foto zeigte mir das Ausmaß der kariösen Schweineschwärze. Zum Abdecker musste das dumpf grollende Borstenviech dann jedoch nicht. Es verfügte bereitz über eine antike undichte Wurzelfüllung. Dirk Palme erläuterte mir seinen Plan: uralte Wurzelfüllung belassen, Amalgam ex, Karies ex, Bluetooth-Aufbaufüllung rein und abwarten. Sollte Bluetooth II (Blauzahn I ist Smaugs kleiner Bruder, sprich Nr. 46) irgendwann heftig mucken, stellte mir Herr Palme eine feine Operation in Aussicht. Auf meine bange Frage nach Art und Ausmaß der OP hörte ich spannende Einzelheiten wie Oberkieferknochen mit einer Fräse eröffnen, Wurzelspitzen resezieren, Zahnspaß bis zum Abwinken… "Aber das muss nicht passieren!", tröstete mich mein Zahndoc.

 

Daraufhin wurde das Schwein von seinen schwarzen Schmodderzonen befreit, mit Säure gereinigt und mit Bluetoothmasse abgefüllt. "Ein halber Kieslaster passt da rein", frotzelte der Zahnarzt. Schließlich wurde die Wutz gefeilt und geschmirgelt und mir mit Hilfe eines Spiegels präsentiert. "Sieht besser aus!", kommentierte ich das fröhlich blau leuchtende Werk. 


Da Nr. 14 nicht mehr im Frontzahnbereich liegt, ist eine schicke Füllungsversorgung keine Kassenleistung. Den Preis von 25 Öckern fand ich jetzt aber nicht so abschreckend. Daher entschied ich mich für die private Variante. Von der Behandlung habe ich wenig mitbekommen, es war alles so schön blau, nein, betäubt. Nadine rührte die aparte Füllung zusammen, die dann Nr. 14 mit Hilfe einer Matrize wieder vervollständigen sollte. Als ich schon fast zu hoffen wagte, demnekst fertig zu sein, freute sich Doc P. wieder einmal tüchtich auf die Nutzung seiner Eierfeile. "Das bereitet Ihnen jetzt wieder so richtig viel Vergnügen!!!", mutmaßte ich grinsend. "So ein bisschen Spaß muss ein Zahnarzt auch mal haben", kam es frech zurück, während der Doc in einer Schublade kramte. Ich wollte das Teil sehen und so hielt er mir einen Grobschmirgelstreifen unter die Nase. "Was bin ich doch für ein Arschloch", murmelte er sich selbstkritisch in seinen Dreitagebart. Das manuelle Feilen klang hässlich, war aber noch nichts gegen die elektrische Verstärkung. Es fühlte sich an, als wolle er den soeben gepimpten Zahn mit einer Rüttelplatte wieder rauspolken. Nr. 14 hielt dem groben Gebaren jedoch tapfer stand. Als ich endlich auch mal wieder etwas sagen durfte, holte ich zum gemeinen Gegenschlag aus: "Wenn ich eines Tages wieder richtig viele Zähne im Mund habe, dann beiße ich Sie!" "Davon gehe ich aus!", kam es ungerührt zurück.

 

Der letzte Akt der heutigen Zahnspaßfolge war ein sehr kommunikativer, denn es ging um den zukünftigen Ersatz der gefallenen Kameraden. Doc Palme war bisher von einer klammerprothetischen Versorgung ausgegangen. Von Ines weiß ich aber von den Vorzügen einer Teleskop-Prothese Meine Recherchen im Internet hatten ähnliche Resultate ergeben. Zum einen verteilt sich der Kaudruck bei Teleskopen besser auf die verbliebenen Zähne. Zum anderen ist das optische Ergebnis ein besseres, weil keine Klammern zu sehen sind. Allerdings sind Teleskop-Prothesen um ein Vielfaches teurer als die einfachere Variante. Ines hatte mir zu Beginn meines Zahnspaßes nicht nur ihre moralische, sondern auch eine finanzielle Unterstützung zugesagt. Sie hatte mir angeboten, die Zahnersatzversorgung zunächst zu finanzieren, so dass ich ihr den Betrag ratenweise zurückzahlen könnte. Ein sehr großzügiges Angebot, das wir gestern nochmals ausführlich besprochen hatten. Ich sollte die Entscheidung für die Ersatzteilversorgung keinesfalls vom finanziellen Aspekt abhängig machen, hatte sie mir mit auf den Weg gegeben.


Daher fragte ich heute Doc Palme nach der Möglichkeit einer Teleskopversorgung. "Sie möchten jetzt unbedingt Teleskop-Prothesen?", frage er mich. "Nein, nicht unbedingt. Ich möchte von Ihnen wissen, was die Vor- und Nachteile beider Varianten sind", antwortete ich neugierig. Und so gab er mir wieder den Spiegel in die Hand, damit wir Zahn für Zahn die verschiedenen Möglichkeiten durchgehen konnten. "Keine einfache Frage!", räumte Dirk Palme ein. "Teleskope wären schon möglich." Allerdings würden diese implizieren, dass gesunde Zähne eventuell auch im Frontzahnbereich beschliffen und mit Metallaufsätzen versehen werden würden. Oben links würde sich das nun blaue Schwein Nr. 26 anbieten. Oben rechts hingegen ist nichts mehr. Die noch vorhandenen Kandidaten wären bis auf die fiberglasbestückten Fakezähne Nr. 12 und 22 zu schade. Wären 12 und 22 mit Teleskopen versorgt, könnte ich nicht ohne Prothesen herumlaufen. Im Unterkiefer zeigt sich bei mir die Konstellation der noch vorhandenen Zähne und ihrer fehlenden Kollegen ähnlich kompliziert. Es wäre zu schade, die noch guten Eckzähne um jeden Preis für immer zwecks Teleskopaufbau zu zerstören. "Es täte mir weh, das zu tun!", meinte mein Zahndoc. "Wenn Sie das möchten, dann mache ich es natürlich, keine Frage. Es wäre aber auch mit erheblich höheren Kosten verbunden. Nicht, dass ich bezweifeln würde, von Ihnen das Geld auch zu bekommen, ganz bestimmt nicht." Ich erklärte ihm daraufhin, dass ich in finanzieller Hinsicht Hilfe bekommen würde. Allerdings behagte mir die Aussicht, bei Ines mit 4000 Euro oder mehr für eine nicht unbedingt sinnvolle Ersatzteilversorgung in der Kreide zu stehen, ganz und gar nicht. Doc Palme inspizierte daraufhin noch meinen rechten Unterkiefer und warf Nr. 46, Smaugs kleinen blauen Bruder, als Teleskopkandidaten in die Waagschale. Aber auch bei dieser Variante müssten gesunde Zähne leiden. Mein Entschluss stand jetzt fest. Ich sprach mich für ein Teleskop oben links in der Schweinebucht und ansonsten für eine klammerprothetische Ersatzteilversorgung aus. Und bin jetzt sehr froh, umfassend aufgeklärt zu sein und zu wissen, was ich will.

 

Abschließend diktierte Herr Palme Nadine für den Heil- und Kostenplan, den meine kranke Kasse demnekst absegnen muss, für jeden Zahn die diskutierten Maßnahmen. Der Kassenzuschuss wird mangels Bonusheft nicht gerade üppig ausfallen. Einen neuen Termin werde ich erst nach dem Segen der kranken Kasse ausmachen – wenn ich Pech habe, schicken sie mich noch zum Gutachter.

 

Diese Folge Zahnspaß endet also mit einem veritablen Cliffhanger, der bange Fragen offen lässt:

 

·    Wann geht es weiter?

·    Wie überbrücke ich die langen Wochen ohne Aussicht
auf Befriedigung meines masochistischen Fetischs?

·   Wird Nali Bakenfalter dem potentiellen Gutachter vorab die Seifenoper zu lesen geben, damit er von einer direkten Konfron-, ähm Konsultation absieht?

 

Stay tuned!

 

10. Februar 2017

Cool! Die kranke Kasse hat den Heil- und Kostenplan bewilligt. Der potentielle Gutachter ist mit einem blauen Auge davon gekommen; ihm blieb der Blick in mein halbleeres Maul erspart.

 

Allerdings wird Cliff Hänger noch eine ganze Zeit lang geduldig baumeln müssen, denn der vorhin mit Nadine vereinbarte laaaaaaaaaaaaaange Termin findet erst am 22. März 2017 statt. Dann haben wir jedoch drei volle Stunden Zahnspaß mit lustig Zähneklappern, quatsch, -schleifen und anderen erquicklichen Vorbereitungen auf die Ersatzteilversorgung.

 

Aber - spätestens im Frühsommer wird auch Nali Bakenfalter mit vollem Mund sprechen können! 

 

 

22. März 2017

Der Gedanke daran, heute wieder den grünen Liegestuhl zu entern, erschien mir in den letzten Tagen surreal. In den vergangenen zwei Monaten hatten mein Job und vor allem die Auswirkungen der … irischen Konzernpolitik viel zu viel Raum in meinem Leben eingenommen. Daher war die Fortsetzung meiner Seifenoper nach und nach hinter meinen Horizont gedriftet. Aber wie Udo schon meinte, geht’s auch dort weiter und so trabte ich um kurz vor 8:00 Uhr mit einem ausgesprochen mulmigen Gefühl folgsam (und fast ohne Ines gegenüber Bedenken geäußert zu haben) durch Connewitz. [OK, vielleicht habe ich es mit der Suche nach wahnwitzigen Ausflüchten am Dienstag ein klein wenig übertrieben.]

Noch hatte ich die Hoffnung, dass aus den geplanten drei Stunden in Wirklichkeit höchstens ein 2-h-Termin werden würde und ahnte glücklicherweise nicht, dass die heutige Folge Zahnspaß in ein blut- und tränenreiches Gemetzel ausarten würde. Splatter!

 

Der Zahnhorror fing jedoch ganz harmlos an. Gegen halb 9:00 checkte ich im grünen Salon ein und talkte mit der freundlichen Zahnarzthelferin small. Wir kannten uns noch nicht - sie wurde später vom Doc Bernie genannt. Es folgte Auftritt Doc Palme, linker Bühneneingang. Er schüttelte mir gut gelaunt die Hand, bevor er sich kurz in meine Unterlagen und den HKP der kranken Kasse vertiefte. „Wir schleifen heute alle Zähne und machen Abdrücke!“ Das klang bedrohlich. Glücklicherweise räumte Herr Palme ein, lediglich die in die Ersatzteilversorgung involvierten Kandidaten kurz und klein zu machen. „Angenehm wird das sicher nicht. Bei mir wurde das noch nicht gemacht. Richtig nachvollziehen, wie sich das anfühlt, kann ich daher nicht. Aber Sie schreiben ja sicher wieder eine Hymne darüber“, mutmaßte Herr Palme. Ich? Niemalz!!!

 

Daraufhin sprach er über die geplante Anästhesie. „Vollnarkose?“, fragte ich voller Hoffnung. Ein entschiedenes „Nein! Auch heute nicht“, desillusionierte mich zutiefst. Vor dem Schleifen durfte ich in quietschrosa Kaugummiknete beißen. Obwohl es mir so ganz und gar nicht schmeckte, musste die Masse zunekst aushärten, bevor sich der Abdruck mit einem schmatzenden Geräusch von meinen Oberkiefer verabschiedete. Danach wurde es mit der Teilanästhesie ernst. Eine gefüllte Mörderspritze erschien in meinem Blickfeld. „Zunächst der Oberkiefer!“

 

Als erstes wurde das schwarze Schwein oben links in der Ecke (Nr. 26) abgestochen, was durchaus auszuhalten war. Dann aber waren Nr. 12 und 22 im oberen Frontzahnbereich dran. Die für Nr. 12 bestimmte Spritze war brutal. Ich jaulte auf, mein rechtes Auge weinte bitterlich. Mein Zahnarzt reagierte ungewohnt freundlich, tröstend... (?) Theatralisch verwies ich auf meine Tränenfluten. „Ich hoffe doch, es handelt sich um Freudentränen“, kam es grinsend zurück. Nachdem Nr. 22 einigermaßen schonend schlafen geschickt worden war, schmirgelte Doc Palme tüchtig drauflos. Immerhin war er zuvor noch so freundlich gewesen, neue Diamanten zu holen, weil es mit den alten länger dauern würde. Ungewohnt empathische Züge, ich war baff. „Es wird alles wieder gut“, tröstete mich mein Zahnarzt. Ich bezweifelte dieses jedoch. „Richten Sie bitte Frau Ebert einen lieben Gruß von mir aus – es war schön mit ihr!“. „Das sagen Sie ihr bitte selbst“, gab Herr Palme leicht geschockt zurück.

 

Sowohl Oberkiefer als auch Nase waren taub. Es tat zunächst nicht weh, aber die Wassermassen, die das Werkzeug kühlten, setzten mir heftig zu. Wie schluckt mensch mit weit offenem Maul? Es war nur bedingt möglich, den Reflex zu unterdrücken, ich schluckte halbherzig, wurde ermahnt, den Mund weit zu öffnen und ersoff. Beinahe jehntfallz.

Nach einer gefühlten Ewigkeit scheußlicher Maßnahmen (teilweise roch es angesengt) an meinen tauben Oberzähnen hörte Doc Palme vorübergehend auf zu schleifen. „Einer ist fertig!“ „EINER!!!???“ „Ja, das dauert heute alles etwas länger.“ Meine Hoffnung auf einen baldigen geordneten Rückzug schwand.

Die Schrumpfung der beiden Frontzähne gestaltete sich fieser, denn jetzt wurde auch das Zahnfleisch mit einbezogen, bei Nr. 12 wurde es teilweise zentimeterdick *räusper* mit einer chirurgischen Zange entfernt. Es blutete lustig aus tausend klaffenden Wunden. [Die objektive Wahrnehmung der Autorin war durch den immensen Blutverlust eindeutig getrübt; Anm. der Red.] Eigentlich dürften von den beiden Fakezähnen hökstens noch die Fiberglasstifte übrig sein, dachte ich so bei mir. Dennoch wurde weiter geschliffen. Und ich schluckte, schluckte, schluckte, unterdrückte mühsam einen gewaltigen Bauern und hoffte auf eine baldige Pause zum herzhaften Aufstoßen unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

 

Derweil unterhielten sich Herr Palme und Bernie angeregt über Partnersuche. Leider verstand ich aufgrund der lauten Schleiffräse in meinem Maul und des Plätscherns der Kühlflüssigkeit nur sehr wenig. Auf jeden Fall ging es abschließend um Leute, die allzu sehr von sich selbst überzeugt sind. Doc Palme erzählte, dass er auf Partys auf die Frage: „Was machst du denn so?“ solchen Zeitgenossen gegenüber gerne „Ich bin Hartz IV- Empfänger.“ äußere. Auf diese Weise sei sofort Schluss mit Unterhaltungen der weniger erfreulichen Art.

 

Eingangs hatte mir mein Zahnarzt ein paar kleine Pausen zur ausgiebigen Blutstillung versprochen und mich gefragt, ob es mir Recht wäre, wenn er in dieser Zeit nebenan andere Patienten behandeln würde. Selbstverständlich war ich einverstanden. Wie nötig diese Unterbrechungen waren, wurde mir nach drei geschliffenen Zähnen klar. Mein Nacken war total verspannt, das Maul wollte zu sein und ich meine Gesichtszüge unbeobachtet entgleisen lassen. Schön war das alles ganz und gar nicht, dafür aber sehr anstrengend. Ich vertiefte mich erleichtert in den angebotenen Stern, las über den Schulz der Zeit, Frau Merkels Müdigkeit und den ungezogenen, dummdreisten gelben Widerborst jenseits des Atlantiks, guckte der Straßenbahn draußen beim Fahren zu und kaute auf blutgetränkten Tupfern herum. Ab und zu sah jemand freundlich nach mir und ich konnte mich erholen.

 

Es dauerte jedoch nicht lange, bis die Tortur ihren vorläufigen Höhepunkt anstrebte. Nr. 46 wurde mit fiesen Umstechungsinjektionen außer Gefecht gesetzt und ein Abdruck des Oberkiefers mit den Stümpfen angefertigt. Dieses Mal musste ich noch viel länger kraftvoll zubeißen. Nein, nicht in den Zahnarzt, sondern in lila Kaugummiplastikknete, die der Zahndoc energisch an die verbliebenen Stümpfe/Zähne oben presste. Es folgte nervenzerfetzendes Schleifen bis zum Abwinken. Bernie arbeitete die ganze Zeit über kompetent und freundlich an Doc Palmes Seite. Inzwischen war es schon fast 11:00 Uhr, eindeutig Zeit für die ersehnte zweite Pause. Der Doc reichte mir wieder die Zeitschriften, ich kaute Tupfer, las einen interessanten Artikel über neue Behandlungsansätze bei quälendem Juckreiz und holte tief Luft. Leider nur kurz. Bevor der scheußliche lila Abdruck unten angefertigt wurde, drückte mir Doc Palme einen Handspiegel in die Hand. Ich sah scheußliche Stümpfe oben... „Jetzt habe ich alles wieder kaputtgemacht!“, lächelte der Doc. „Aber das wird wieder, Sie bekommen Provisorien und sehen vernünftig aus, wenn Sie nachher die Praxis verlassen.“ Er hielt mir ein zahnähnliches Teil an meine eigenen Vorderzähne, um die Zahnfarbe der Ersatzteile zu bestimmen. Ich bestätigte, dass die Farbe passte. Wiederum wurde mir mit lila Knetmasse das Maul gestopft, nachdem Doc Palme kleinere Korrekturen nachgefräst hatte.

 

Die Versorgung mit den Provisorien sollte Vanessa übernehmen. Und so verabschiedete sich mein Zahndoc von mir, nicht ohne mir vorher noch versichert zu haben, dass ich wieder einmal sehr tapfer gewesen war. Das finde ich allerdings auch. Doc Palme machte heute einen etwas gehetzten Eindruck. Es würde mir sehr leidtun, wenn ihn Zeitdruck und viel zu viel Arbeit verschleißen würden. Immerhin unterhält der überaus kompetente Doc zwei Niederlassungen in Leipzig. Es wäre sehr schade, wenn seine entspannte Frechheit auf der Strecke bleiben würde. Immerhin wird ihn demnächst ein Zahnarzt an zwei Tagen in der Woche in Connewitz unterstützen.

 

Vanessa drückte Herrn Palme ein Telefon in die Hand und er verschwand. Sie sah sich prüfend die vier befrästen Stümpfe an und begann mit deren Vorbehandlung. Sie erklärte mir nicht nur jeden ihrer Schritte ganz genau, sondern auch, wie ich später mit den Provisorien umgehen sollte. Nüsseknacken sei nicht angebracht. Ach was! Vorzugsweise soll ich mich bis zur finalen Ersatzteilversorgung von vorwiegend weicher Kost ernähren. Die Provisorien wurden zunächst oben und dann unten angepasst und danach von Vanessa außerhalb meines Mundwerks beschliffen. Sehr angenehm. Als wieder ein vorläufiger Plastikzahn eingesetzt war, verstand ich „Zumachen“ und hatte dann leider Vanessas Finger zwischen den Zähnen. Es tat mir sehr leid, dass ich ihr wehgetan hatte und ich entschuldigte mich zerknirscht. Ich war in der Tat nicht mehr so ganz momentan.

 

Vanessa bot mir an, die Löffel mit den Abdrücken mit nach Hause zu nehmen, weil ich in Frankfurt lebe und es möglich ist, dass sich die Provisorien lockern und herausfallen. Erneute Abdrücke bei einem Frankfurter Zahnarzt könnten mich sehr teuer zu stehen kommen. Ich finde dieses Angebot sehr großzügig und habe versprochen, die Löffel zu den folgenden Behandlungen mitzubringen. Zwischendurch soll ich sie im Kühlschrank parken. Falls ein Provisorium rausfällt, ist es angebracht, möglichst noch am selben Tag einen (wildfremden!!!) ZA aufzusuchen und auf keinen Fall zwei oder mehr Tage zu warten. Die Schleimhaut könnte in dieser Zeit lustig wuchern, so dass hinterher baff Gebiff niff paffp.

 

Schließlich fixierte Vanessa die provisorischen Hilfszähne mit Zahnzement und entfernte überflüssiges Geröll. Nach mehr als drei Stunden durfte ich mich aus dem grünen Liegestuhl pellen und mir im Bad die Spuren des Gemetzels abwaschen. Vanessa besprach währenddessen mit der anwesenden Zahntechnikerin, wann wie viele Folgetermine stattfinden sollten. Insgesamt wird diese Seifenoper noch drei Folgen haben, bevor am 15. Mai das große Finale steigt. Unglaublich! Während einer kurzen Feuerpause hatte ich Doc Palme gegenüber schon geäußert, dass ich mir noch vor einem Jahr nicht hätte vorstellen können, so etwas! (sprich die heutigen Attacken) lebendig zu überstehen. Den Rest dieses langen und auch recht schwierigen Weges werde ich jetzt auch noch schaffen.

 

Ich bedankte mich herzlich bei Vanessa für ihre tolle Arbeit und zog mit den Abdrucklöffeln im Rucksack fröhlich von dannen. Am 3. April findet die erste Anprobe statt. Obendrein müssen noch ein paar kariöse Einschusslöcher im Oberkiefer saniert werden, bevor Nali Bakenfalter ihr Maul so richtig vollnehmen kann.

 

Stay tuned!

 

Post scriptum:

Ines‘ Kommentar zu meiner gewohnt sachlichen Zusammenfassung der Ereignisse im Grünen Salon:

"Angesichts des geschilderten Leids mit Schmerz und Blut nimmt es sicher nicht wunder, wenn ich mich wieder einmal an das Werk eines großen Leipzigers erinnert fühle."

[Sie bezog sich auf den Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ aus der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach; Anm. der Red.]

 

 

3. April 2017

Das Maul so richtig voll bekommen habe ich heute. Aber nicht freiwillig…

 

Gestern war die Welt noch in Ordnung. Ines und ich unternahmen gleich nach meiner Ankunft einen beschaulichen Sonntagsausflug nach Zeitz. Zunächst trachteten wir danach, in dieser anhaltinischen Kleinstadt das kranke Haus zu finden, in dem Ines am Donnerstag ein Vorstellungsgespräch haben wird. Meine Frau Schnauze! (Schmatzfon-Navi) schaffte es noch tapfer, uns durch Audigast und an Schnaudertrebnitz vorbei zu manövrieren, versagte in Alt-Trögnitz jedoch auf ganzer Linie und wiederholte hysterisch kreischend Karl-Marx-Straße. Das kranke Haus fanden wir trotzdem und hatten danach viel Spaß auf einem Frühlingsmarkt an der Moritzburg. Es war hökste Zeit, meine traditionellen Ausflüchte, warum ich Dirk Palme heute keinesfalls besuchen können wollen würde, einzuleiten. Ines braucht das nämlich. Mir war das wumpe, da ich leichtsinnig meinte, nix Schlimmes mehr befürchten zu müssen. Später am Abend fragte ich Ines beiläufig, was ich denn dann im Mai machen solle, wenn ich mit dem Gebiss und den vielen ungewohnten Zähnen im Mund nicht sprechen können würde. Ein charmantes „Klappe halten!“, kam frech grinsend zurück…

 

Heute früh trabte ich nach ein paar finalen Ausflüchten frohen Mutes mit der Aussicht auf mindestens ein endgültiges Schmuckstück in meinem Mund zu meinem Zahnarzt. Im grünen Salon grinste mich ein Gipsgebiss mit Metallkäppchen an. „Au fein!“, freute ich mich. „Bauen Sie mir das heute ein?“ „Teilweise“, antwortete mir Herr Palme freundlich. „Zuerst müssen die Provisorien wieder raus, dann setze ich die Käppchen ein und danach machen wir Abdrücke. Vorher muss ich aber noch ein bisschen [infame Untertreibung, Anm. der Verstümmelten] schleifen, damit die Klammern der Prothesen und die weißen Verblendungen der Schneidezähne oben richtig passen." Fröhlich bereitete er alles vor, während ich längst nicht mehr so gut gelaunt meine Kinnlade fallen ließ. Immerhin stand das Maul dadurch weit offen und so hätten die vier Provisorien schnell entfernt werden können, hätten sie sich nicht standhaft Dirk Palmes Zangenextraktionsversuchen widersetzt. Schön war das nicht. Schließlich löste sich Fakezahn 22 und hüpfte fröhlich Richtung Rachenraum. Kurz bevor der Schlundschnürermuskel den Fakezahn in die Speiseröhre katapultieren konnte, hielt ich ihn mit einem beherzten Zungenmanöver zurück und überreichte ihn Doc Palme. „Danke, Sie sind sehr kooperativ!“ The same procedure with fake 12. Kurz vor dessen angestrebtem Verschwinden im Ösophagus machte ich wiederum den Rachen zu und holte den Fakezahn aus dem Mund. Schließlich wäre es sehr viel Aufwand gewesen, die Provis nochmals anzufertigen. Die mobilisierte Vertretung vom schwarzen Schwein (Nr. 26) wurde von Nadine aufgefangen, bevor das letzte Provisorium von Doc Palme himself asserviert werden konnte.

 

Danach begann der Termin vollends abzugleiten. Die smileyähnlichen Verzierungen auf dem Gipsgebiss waren mitnichten Grinsegesichter, sondern Markierungen von störenden Zahnbereichen. Mir schwante Schlimmes. Engagiert erläuterte mir mein Zahndoc mit Hilfe eines Spiegels das Procedere und zückte den Schleifhammer. „Das wird jetzt nicht so schlimm wie das letzte Mal, wir versuchen das ohne Betäubung." Okeeeeeeeeeh….? Immerhin fühlte ich mich nach den bisher mit Bravour überstandenen Abenteuern im Grünen Salon routiniert und total tapf…aaaahhhh. Nr. 22 gefiel das gar nicht. „Nur noch ein bisschen. Geht das?“ Heldin, die ich war, gab ich seltsame Töne von mir, die Herr Palme als Zustimmung wertete und daraufhin lustig andere Kandidaten der oberen Zahnreihe traktierte. Das nächste „Geht’s noch?“ verneinte ich daher entschieden. Die darauffolgende Anästhesie der 68 [räusper] zu behandelnden Zähne tat mir weh. Weiter ging die brutale partielle Zerstörung meiner sanierten Kaukumpels. War ich versehentlich in der Aufzeichnung der ferkerten Serie gelandet…? Hatte der Regisseur keine Ahnung vom Drehbuch? Wer schreibt das hier eigentlich, wer spielt die Hauptrolle? Ach so, ich bin lediglich das Opfer…

 

Schnitt, nächste Szene, der Schleifprügel durfte sich ausruhen. Stattdessen kam eine riesige Silikonspritze in mein Blickfeld. Nee, oder? „Ich hatte mir den Termin heute eigentlich ganz harmlos vorgestellt“, wagte ich einzuwenden. „Ich mir auch“, gab Dirk Palme zurück. „Aber wir müssen das hier jetzt durchziehen.“ Er deutete auf die Kritzeleien auf dem hämisch grinsenden Gipsgebiss, das inzwischen auf seinem gemütlichen Instrumententischchen Popcorn futterte.

„Das wird jetzt sehr voll in Ihrem Mund. Hoffentlich müssen Sie nicht kotzen!“ Oh hauerha, heute vermag er mich wirklich zu motivieren. Immerhin war die Knete heute weder rosa noch lila, sondern hübsch blau und schmeckte nicht nach Kaugummizahncreme, sondern eher pharmazeutisch verseucht. Die Abfüllung der Ruinen mit der Silikonspritze war noch erträglich, aber als der Riesenlöffel mit Spachtelmasse kräftig gegen meinen Oberkiefer gedrückt wurde und der Druck nicht nachließ, wurde es verdammt eng im Schlund und schwierig, nicht zu würgen. „Eigentlich ist das eine sehr schöne Sitzung heute!“, wagte der Hufschmied schräg neben mir zu äußern. Meine unkoordinierten Laute aus dem überfüllten Maul waren leider nur ein schwacher Protest und ich hörte den Schlächter irgendetwas über hasserfüllte Blicke murmeln. Sehen konnte er meine in diesem Moment nicht, aber getroffen haben sie ihn mit Sicherheit.

 

„I’m only human, after all, I‘m only human, after all,

don’t put your blame on me, don’t put your blame on me!”,

 

gab das Radio im Grünen Salon zum Besten. Das konnte doch kein Zufall sein. Schon bei meinem letzten Termin des Grauens hörte ich diesen Soundtrack, als es mir gerade total beschissen ging.

 

„I beg for forgiveness for making you cry…“

Na immerhin!

 

„I do what I can, I’m a just a man, I do what I can…“

 

Jau mach hinne, hol endlich die Gummiplastik aus meinem Mund… Tat er aber nicht. Immerhin befand sich mein Kopf inzwischen in einer etwas höheren Position; ich konnte röcheln und mich krampfhaft dazu zwingen, nicht zu würgen. Nadine war gerade verschwunden, als Doc Palme ankündigte, ebenfalls das Behandlungszimmer zu verlassen. „Spucken Sie das Teil bloß nicht aus!“ 'Ich kotze gleich im Strahl', hätte ich gern erwidert. Ging aber nicht mit dem stetig quellenden Monster im Maul. Überhaupt schien es sich im Rachen auszudehnen, die Luftröhre abzudichten und keiner war da, der mein Ersticken verhindern würde…

 

[Später sollten meine sachlichen Schilderungen des Abdruckdramas Ines an die folgende Illustration aus dem Film Alien I, den wir vor einiger Zeit zusammen gesehen hatten, erinnern…]

 

Durchaus treffend. Genauso war es!
Durchaus treffend. Genauso war es!

(H. R. Giger, Face Huger, 1977)

 

Entschlossen brachte ich meinen Kopf in eine höhere Position, holte durch die Nase tief Luft und schluckte die Plastik, nein!!!, die Panik runter, bevor Nadine und der Doc zurückkehrten. Herr Palme schickte sich an, mir nicht nur die Zahnreihe oben, sondern den gesamten Oberkiefer rauszubrechen. So fühlte sich das an. Mit einem lauten Schmatzen löste sich das blaue Silikonmonster schließlich von mir. Der Abdruck war gelungen, wehe, wenn nicht!

 

„Sollen wir das Schleifen unten lieber gar nicht erst ohne Betäubung versuchen?“ „BLOSS NICHT!!!“ Folglich bekam ich (mindestens) 78  intraligamentäre Injektionen, eine schmerzhafter als die vorherige. Ich wimmerte kläglich. „Ich weiß, dass tut sehr weh. Alles wird gut. Und Sie bleiben stark!“ Wer jetzt, ich etwa? Im nächsten Leben gehe ich regelmäßig zum Zahnarzt, jammerte ich tonlos in mich hinein. I’m only human…

 

Das Schleifen möchte ich an dieser Stelle nicht in epischer Breite rekapitulieren. Nur so viel – die Schmerzen lachten die örtliche Betäubung einfach aus, während ich am liebsten heulend Zuflucht unter meiner Bettdecke zu Hause in Frankfurt gesucht hätte. Grinsen musste ich dann aber doch, als Dirk Palme versuchte, sich wieder auf seinen Hocker zu setzen, das Polster jedoch verrutschte und er mit dem „Furzkissen“ schimpfte.

 

Natürlich folgte auch dieser Zahnverstümmlung ein fieser Abdruck, nachdem Doc Palme dem Kandidaten unten rechts das vorbereitete Metallkäppchen aus dem gemeinen Grinsegipsgebiss aufgesetzt hatte. Er quetschte den silikongefüllten Löffel, Smaugs kleinen Bruder und meinen Unterkiefer mit Gewalt zusammen [is he really only human…?] Zum Glück ging das Aushärten dank einer anderen Füllmasse sehr viel schneller als zuvor. Herr Palme ließ nicht locker. „Schön die Luke aufmachen, ganz weit, nicht neuerdings schüchtern werden! Sie beißen mich gerade!“ Erschrocken riss ich die Klappe wieder auf. Ich hatte aufgrund der Betäubung nichts gemerkt. „Aber Sie dürfen das, Frau Versen!“

 

Auch die Entfernung des Abdrucks war nicht ganz so schrecklich. Doc Palme steckte die vier Provis wieder in ihre Zahnfleischgaragen und betonierte sie ein. Und wollte sich danach von mir verabschieden. Dieses ließ ich jedoch noch nicht zu, sondern bestand darauf, dass er vorher noch die Abdruckreste auf der Innenseite meiner unteren Schneidezähne entfernte. „Das ist unser Abschiedsgeschenk an Sie“, grinste der Doc. Abschließend fragte er noch, ob ich den nächsten Termin schon vereinbart hätte… „Nö. Ich hab jetzt schon die Schnauze voll“, giftete ich in Gedanken, obwohl die Fortsetzung des Dramas am Gründonnerstag schon feststeht. Dennoch schüttelte ich ihm schief grinsend die Hand und rubbelte mir vor dem Spiegel im Bad die Silikonreste aus dem Gesicht.

 

Auf dem Weg zurück zu Ines tat mir mein gesamtes Innenmaul samt Rachen weh. Das Restgebiss fühlte sich viel poröser an als vor meiner Zahnbehandlungsserie. Meine Stimmung näherte sich dem Nullpunkt. Eine maximal invasive Behandlung zum Weglaufen war das heute. Der Schlächter von Connewitz hatte mir beim Schleifen und Abdrücken den Nervus omniultimus geraubt... Nix schickes Endgültiges im Mund, stattdessen Schleifspuren und Reste der Beinahkotzabdrücke.

 

Ich klagte Ines ausführlich mein Leid und nahm ein wohltuendes Vollbad in ihrem Mitgefühl. Lächelnd meinte Ines, dass ich mich ja immerhin verbal verpixelt an Doc Palme rächen kann, was ich hiermit nur zu gern mache. Sie verglich uns Rumpentrumpens mit schmerzensreichen Madonnen, denn auch ihr steht am Gründonnerstag im kranken Haus gleich nebenan ein maximal invasiver ambulanter Eingriff in Vollnarkose bevor. Daher muss Doc Palme beim nächsten Termin so schnell und so viel wie möglich von mir übrig lassen, damit ich Ines postoperativ aus dem kranken Haus abholen und sie und ihre Katzen angemessen betreuen kann. Ich habe schließlich einen Versorgungsauftrag zu erfüllen!

 

Seifenoperntypisch nimmt die Dramatik dieser Serie gegen Ende Formen an, die ein Happy End in unerreichbare Fernen driften lässt.

 

·  Wird diese Story enden wie bei Alien I, indem aus sicherlich noch vorhandenen Silikonresten in meiner Luke wiederum blaue Monster quellen, die ein Kauen unmöglich machen?

 

·   Werde ich nie wieder knuspriges Brot verzehren können?

 

·   Wann stopft mir Doc Palme endgültig das Maul?

 

·   Wie tief werden die hoffentlich irgendwann eingebauten Ersatzteile in seine frechen Finger beißen können?

 

Könnte ich doch nur das Drehbuch meinen Vorstellungen anpassen und die Regie an mich reißen…

 

Was stattdessen bleibt, ist eine bange Opferrolle rückwärts. Bis auf weiteres wird ein kalter Windhauch durch meine neuen Zahnlöcher ziehen, während ich düster vor mich hin schlottere, feste Nahrung ablehne und Käsesahnetorte püriere…

 

 I’m only human, after all…

 

 

13. April 2017

Fast hätte ich fremdgehen müssen. Die eingebauten Provisorien hatten sich bislang anständig benommen. Bis sich der Platzhalter von Nr. 12 am Palmsonntagabend Zahnhals über Kopf in ein lecker überbackenes Schweinemedaillon verliebte und sich mit ihm zusammen in den dunklen Abgrund meines Magens stürzen wollte. Entsetzt holte ich den Fakezahn kurz vor dem Vollzug des Unaussprechlichen aus dem Mund und starrte ihn entsetzt an. Im Gegensatz zu ihm war mein Appetit verdorben. Glücklicherweise ließ sich der Sünder mit Zahncreme abfüllen und wieder in seine Zahnfleischgarage einparken. Und blieb drin. Während der neksten drei Arbeitstage versuchte er wiederholt die Flucht, ließ sich jedoch jedes Mal wieder reponieren. Schwein gehabt. Ich hätte wegen einer neuen onkologischen Studie, die zusätzlich zu den anderen noch nicht abgeschlossenen Studien betreut werden wollte, überhaupt keine Zeit gehabt, meinen Arbeitsplatz zu verlassen, um einen Zahnarzt aufzusuchen. Und keinen Nerv, mich an einen wildfremden Dentisten zu wenden. Im Moment ist jenseits der Arbeit nicht viel Leben übrig; da gilt es, für die Piratenkater zu sorgen, den Haushalt nicht völlig verwahrlosen zu lassen und ansonsten die Arbeitsfähigkeit über Nacht wiederherzustellen. Schnauze voll, eigentlich. Nur noch nicht mit Zähnen. Um diese wollte ich mich am Gründonnerstag kümmern und reiste daher am Vorabend nach Leipzig. Bei diesem Besuch standen allerdings Ines und ihr maximal invasiver ambulanter chirurgischer Eingriff im Mittelpunkt. Ich nahm meinen Versorgungsauftrag sehr ernst, denn schließlich hat eine Rettungsärztin wie sie, die schon so viele Notfälle kompetent versorgt hat, eine optimale postoperative Betreuung zu Hause verdient. Hoffentlich würde alles ohne Komplikationen und Imponderatten über die Bühne gehen. Ich hatte – vorsichtig ausgedrückt – einen Heidenrespekt vor diesem Donnerstag und konnte mir wahrscheinlich nur annähernd ausmalen, wie Ines sich fühlen musste. Sie verschwand morgens um halb sieben völlig nüchtern und komplett unterkoffeiniert ins kranke Haus schräg gegenüber. Glücklicherweise meldete sie schon um kurz nach 10 ihr Überleben und wünschte mir viel Glück beim Schlächter von Connewitz.

 

Und das hatte ich dieses Mal tatsächlich. So schmerzfrei und schnell war bisher noch keine Folge al dente vergangen. Das Team empfing mich entspannt und bestens aufgelegt nach der Mittagspause. „Heute wird es überhaupt nicht schlimm“, machte mir mein Zahnarzt Hoffnung.

 

„Davon waren wir das letzte Mal auch ausgegangen“, entgegnete ich ein klein wenig misstrauisch, aber grinsend. „Neinein, heute wird das ganz harmlos. Sie müssen nur in Wachs beißen.“ Das klang nicht ganz so schlimm wie Abdruck. Auch das Grinsegipsgebiss klapperte mich noch nicht schräg von der Seite an. Dafür war dieses Mal Julia, die Zahntechnikerin, dabei. Sie wollte sich am lebenden Subjekt ansehen, wo ihre in der Arbeit befindlichen Werke zukünftig wohnen sollten und inspizierte zusammen mit Doc Palme interessiert meine Zahnlücken. „Nehmen Sie mal die Zunge zurück und beißen Sie zu!“ In Ermangelung von Fingern/Essbarem/Instrumenten zwischen ihnen klackten meine Restzähne zusammen. „Das ist ein Kopfbiss“, diagnostizierte Herr Palme. „Zwanghaft.“ Auweia, hatte ich in der Vergangenheit einen Sockenschuss überhört? Hakte oder klemmte es bei mir irgendwo?

Julia hatte plötzlich den grinsenden Gipsbeißer in der Hand und verglich ihn mit meinen pathologischen Beißversuchen, während Dirk Palme versuchte, meine Kiefer so zu schieben, dass ein gesunder Biss entstand, wobei sich mein Maul subjektiv jedoch verflixt schief anfühlte. So würde ich niemalz essen können!!! Julia verschob den Gipsgrinser dann aber glücklicherweise doch noch analog zu meiner ungesunden Kauposition und meinte, sie wisse jetzt, wie es aussehen müsste. Sie verschwand mit dem klapprigen Gaffergebiss, bevor dieses wieder sensationslüstern Naschwerk auspacken konnte.

 

Nadine sollte zwischenzeitlich Tackernadeln bereitlegen. Eine neue Foltermethode? Ich äußerte angesichts der vier vor mir liegenden Exemplare Besorgnis, was Nadine amüsierte. Niemand wollte mich aufklären! Stattdessen sollte Nadine warmes Wasser bereitstellen. Ich hörte Herrn Palme lustig planschen, sollte dann mein Maul öffnen und bekam schon wieder einen Löffel hinein, dieses Mal einen sehr nassen. Das Zubeißen war allerdings nicht ganz so eklig wie bei den vorherigen Knetaliens, es dauerte auch längst nicht so lange, bis die Masse fest war. „Die Tackernadeln brauchen wir jetzt doch nicht“, äußerte mein Zahnarzt beim Entfernen der Wachsteile. Interessant! Leider erfuhr ich nicht, wozu er sie denn womöglich hätte nutzen wollen…

 

Als ich schließlich auch mal wieder etwas sagen konnte, fragte ich höflich nach der Kariesbehandlung an meinen Oberzähnen. „Heute haben wir keine Zeit mehr“, gab Herr Palme zu bedenken. „Nein, nein, das will ich auch nicht, ich muss gleich ganz schnell weg!“ „Ist klar!“, grinste der Doc. Er besah sich die Schäden und ich schlug vor, notfalls noch einen zusätzlichen Termin für die Reparaturen auszumachen. Denn erst wenn das letzte schwarze Loch gestopft ist, kann ich diese Seifenoper für beendet erklären. Vorher kein Finale!

 

Wir wünschten uns fröhlich schöne Ostern und ich ergriff schleunigst die Flucht. Ines durfte zwar erst frühestens um 16:30 Uhr aus der kranken Anstalt befreit werden, aber ich wollte noch schnell ein Postamt, einen Blumenladen und eine Apotheke überfallen. Zwischendurch hatte ich schon diverse WhatsApp-Nachrichten von Ines mit dem Tenor „ICH WILL HIER RAUS“ erhalten und freute mich sehr darüber, dass sie schon wieder frech sein konnte. In Gedanken hatte ich die angekündigte Pflegestufe zu einer meiner Ansicht für eine Ärztin angemessene Pflegetreppe ausgebaut.

 

Pünktlich enterte ich schließlich Station 13, durfte auf der Stelle quittieren, dass ich im Vollbesitz meiner geistigen… Quark, dass ich Ines jetzt in Empfang nehmen würde und stand dann endlich vor ihr. Sie sah lebendiger aus als befürchtet und sprang bei meinem Anblick sofort aus dem Bett. Zufrieden verließen Rumpentrumpens die Anstalt durch den Hinterausgang des kranken Hausgartens und waren nach wenigen Metern schon wieder zu Hause. Ines ging es zwar nicht gerade toll, aber doch viel besser, als wir es beide im Vorfeld befürchtet hatten. Und so stürzte ich mich begeistert die Pflegetreppe hinauf…

 

 

02. Mai 2017

 Vertrieft schluffte ich durch den herbstlichen Mairegen. Für Zahnspaß war ich um kurz nach 8 auch nach drei Eimern Kaffee noch längst nicht ausgeschlafen genug. Keine Spur von seniler Bettflucht heute früh, nachdem Ines und ich zusammen mit unserer Gruftifreundin Alex in fröhlichem Dunkelschwarz erst Deine Lakaien im Gewandhaus, dann die Nacht an sich und obendrein uns selbst gefeiert hatten. Ein rabenschwarzer Kater hatte mich bereitz im Bett heimtückisch gequält – und das, obwohl ich lediglich an ein paar Fingerhütchen Pirattenbrause genippt hatte. Mephis gezielte Todessprünge vom Schrank auf mein Nachtlager hatten mich gegen 03:00 Uhr nicht gerade in den Schlaf gewiegt.

 

Im Gegensatz zu mir guckte Dirk Palme hellwach um die Ecke, schüttelte mir kräftig die Hand und lachte mich freundlich an. „Ja, ich freue mich auch schon“, beantwortete ich grinsend seine nicht gestellte Frage. „Immer diese vorgeheuchelte Begeisterung!“, musste ich mir daraufhin anhören. Nix da. Ich bin von Grund auf grundehrlich! Kurze Zeit später durfte ich mich in den grünen Liegestuhl kuscheln. Auf die Frage, wie es mir denn gehe, beschrieb ich wahrheitsgemäß meine Müdigkeit. „Ich konnte vor Angst kaum schlafen. Ich habe die ganze Nacht geschlottert!!! Palme, irritiert/besorgt: „Echt jetzt?“ Kichernd fasste ich unsere nächtliche Gruftsumpferei zusammen.

 

Der Gipsbeißer rechts vor mir sah der drohenden Ersatzteileinprobe schon hämisch grinsend entgegen. Bevor mich mein Zahndoc wieder am Sprechen hindern konnte, erzählte ich ihm noch schnell vom konsequent aufmüpfigen Provisorium Nr. 12. Dieses hatte Nervenstärke bewiesen, als es mir gestern Abend beim Essen stechend den Appetit verderben wollte. „Aber der ist doch tot“, wandte Herr Palme ein. „Beim Kaffee trinken vorhin hat er auch gemotzt“, verpetzte ich den fiesen Zombienerv. Außerdem sprach ich zum wiederholten Male die Sanierung der noch verbliebenen Durchschüsse an. „Wenn es heute mit der Wachseinprobe gut klappt, dann kümmere ich mich noch darum.“ Ich hoffte wiederum das Beste.

 

Es kam dann aber doch alles ganz, ganz anders. Dirk Palme betrachtete meinen Mund von innen und stellte fest, dass er mir unten sehr gern etwas Festes eingebaut hätte. „Aber dafür fehlt ein Zahn, nein, eher zwei.“ Ich war posthum immer noch froh, dass Nr. 34, Smaug himself, mitsamt seiner Abszessvulkanhöhle nicht mehr unter uns weilte.

 

Daraufhin hielt mir mein Zahndoc zwei mit Zähnen garnierte, geschwungene Metallteile unter die Nase. „Die Zähne sind nur aus Wachs. Das gegossene Metall aber bleibt und das probieren wir jetzt ein.“ Dirk Palme beschloss, mir mal eben die Provisorien aus dem Mund zu klauben. „Hoffentlich tolerieren Sie das und gehen nicht durch die Decke!“ Das tat ich mitnichten. Es tat dieses Mal aber auch kein bisschen weh. „Hey, das ist unser Lied“, bemerkte Herr Palme erfreut. Erstaunt sah ich ihn an. Ich hatte heute nicht darauf geachtet, was das Radio zum Besten gab. „Du bist ein Geschenk“, strahlte mich mein Gegenüber an. Au Mann! Obwohl… klar bin ich das. So eine ergiebige Großbaustelle… „Mit den Angstpatienten ist das immer so eine Sache“, vernahm ich. Nee is klar, wem erzählt er das. „Die kommen meistens mit Schmerzen, lassen die Schäden provisorisch reparieren und dann sehe ich sie allen guten Vorsätzen zum Trotz nie wieder. Nur einer von zehn zieht das so konsequent durch wie Sie.“  Das ging mir runter wie pürierte Käsesahnetorte. „Ich habe mich sehr überwinden müssen, um überhaupt herzukommen“, gestand ich. „Aber dann habe ich festgestellt, dass ich Ihre Behandlungen durchaus überleben kann und habe daher beschlossen, das bis zum Schluss durchzuziehen.“ „Da haben Sie etwas geleistet!“ (Und jetzt noch das Sahnehäubchen!). „Darauf bin ich auch stolz“, gab ich zu. „Das können Sie auch sein. Ich bin auch stolz!“ Hach! Dieser Zahnarzt ist aber auch ein Geschenk für mich. Ich bin heute noch erstaunt, dass ich mich all dem Grauen zum Trotz noch immer in seine Nähe wage und mich weiterhin von ihm foltern lasse.

 

Apropos, das Drama gewann an Fahrt. Das obere Prothesenteil schmiegte sich halbwegs vernünftig an die Restzähne meines Oberkiefers. Beim unteren hakte es jedoch gewaltig. Das Metallgestell und mein Unterkiefer wollten so gar nicht miteinander harmonieren. Es passte hinten und vorne nicht richtig. „Beißen Sie mal zu!“ Das tat ich. „Und jetzt klappern!“ Mit den Knochen? OK, dann lieber doch mit den Zähnen. „Sie beißen krass!!!“

Er bat Nadine, Lissy, die Zahntechnikerin, zu holen und demonstrierte ihr das Desaster inklusive mangelhafter Okklusion. Der Zahnarzt erwähnte wiederum meinen durchgeknallten Kopfbiss und fragte Lissy, ob man das Gestell noch zurechtbiegen könne. Enttäuscht betrachtete Lissy die Zustände in meinem Mund und schüttelte den Kopf. „Wahrscheinlich müssen wir das noch einmal gießen, Biegen wird nicht helfen.“ Die beiden probierten dem feixenden Gipsgrinser die untere Prothese an. Ihm passte sie wie angegossen, im wahrsten Sinne des Gusses. „Und jetzt ist Julia extra am 1. Mai hier angetanzt, um die Zähnchen einzupassen.“ Die Frustration machte sich noch breiter; sie schubste beinahe den Grinseheimer vom Instrumententischchen. Verdient hätte er es!

„Nehmen wir doch die Krone unten rechts raus, vielleicht passt es dann besser.“ Aber auch diese Maßnahme half nicht.

 

Mir schwante Fürchterliches und so kam es dann auch. Noch ein Alienabdruck! Wie das Monster dieses Mal hieß, habe ich vor Schreck vergessen. Glücklicherweise handelte es sich um das weniger unangenehme Modell. Nadine rührte die Pampe schon einmal an. Es wurden Abdrucklöffel gesucht. Ich war fast schon versucht, beiläufig zu erwähnen, dass ich zwei davon fast ständig mit mir herumschleppe, unterließ das aber. Es wäre nicht zweckdienlich gewesen, weil ich die Abdrücke für den Fall eines gemeinen Provisorienverlustes in der Zeit bis zum Finale noch brauchen würde. Als Pausenfüller erzählte mir mein Zahnarzt von der Inkorporation der Prothesen. Also meiner Gewöhnung an die beiden Fremdkörper. Ich solle sie konsequent tragen, auch wenn es sich zuerst sehr seltsam anfühlen würde und ich das Sprechen mit ihnen neu lernen müsste. Nur gut, dass ich von Natur aus so wortkarg bin…

 

„Alles wird gut“, hörte ich. „Das behauptet der jedes Mal, so ein Quatsch“, nahm sich Herr Palme selbst auf die Schippe. „Hey, ich halte mich daran fest!“, warf ich empört ein, bevor mir wieder einmal das Maul gestopft wurde.

Doc Palme drückte den Abdrucklöffel mit der fiesen Glibbermasse kräftig an meinen Unterkiefer. „…and supergirls don’t cry!“, kommentierte das prophetische Radio diesen Gewaltakt.

„Mist, jetzt ist die Krone unten nicht mit drin. Nadine, holen Sie bitte Lissy oder Julia!“ Beide Zahntechnikerinnen erschienen und meinten, dass so ein Abdruck ohne die Krone zwar nicht schlecht sei, aber auch nicht ausreichen würde. „Das war mein Fehler, sorry“, räumte Herr Palme ein. Also Abdruck raus, Metallkrone wieder rein and the same kaugummi-procedure once again.

 

Die Zeit würde für eine Behandlung meiner kariösen Durchschüsse oben wieder nicht reichen. „Wann ist der Termin für die Fertigstellung?“, fragte mich Doc Palme. „Am 15. Mai.“ „OK, dann kümmere ich mich am 15. um die noch fehlende Kariesbehandlung. Es kann sein, dass ich Sie zwischendurch rausschicken muss, um den nächsten Patienten zu behandeln. Sie können dann draußen ein bisschen lesen und wir machen danach weiter. Sagen Sie mir bitte das nächste Mal, dass wir das so abgesprochen haben, treten Sie mir auf die Füße!“ Au ja, und dann beiße ich mit meinem zahnbestückten Komplettmaul noch einmal so richtig schön in den Zahnarzt, ging es mir durch den Kopf. [Ist ihr der seltsame Biss zu Kopf gestiegen oder hat die Protagonistin inzwischen zu viele BTM intus? Anm. d. Red.] Ich behielt diesen ketzerischen Gedanken für mich und verabschiedete mich fröhlich.

 

Im Moment kann ich mir angesichts der heutigen Imponderatten noch gar nicht vorstellen, dass am 15. Mai tatsächlich die finale Fertigstellung steigen soll…

 

Inklusion, Okklusion oder doch nur Illusion?

 

Stay tuned!

 

 

15. Mai 2017

Wieder einmal sitze ich im Zug nach Hause, wie schon so oft nach einem Besuch bei meinem Zahnarzt. Dieses Mal jedoch zum (vorläufig) letzten Mal…

 

Die finale Folge meiner Soap Opera al dente hatte gestern früh sämtliche Handlungsstränge, Hoffnungen und Ängste zu einem großen blonden Nervenbündel verwirrt, das sich adrenalintrunken fast mit der Föhnkabel stranguliert hätte. Und das trotz Ines‘ tatkräftiger Unterstützung. Sie hatte sich bereit erklärt, mein herzliches Dankeschön an Doc Palme und sein Team schon vor dem Aufstehen beim Obsthändler am Hauptbahnhof abzuholen. Wie gut diese Idee war, zeigte sich, als der Obstkorb nicht wie versprochen um kurz nach 07:00 Uhr fertig war. Zum Glück war ich nicht mitgefahren, sondern musste einfach nur durch Connewitz laufen, um pünktlich in der Praxis einzufallen.

 

Erst einmal Hinsetzen und Luftholen. Widersprüchliche Gefühle tobten noch heftiger als sonst in mir. Würde heute tatsächlich alles fertig und vor allem ich mit dem Ergebnis? Durch war ich bereitz, aber sowas von. Zur Beruhigung suchten meine Augen wie jedes Mal nach dem großen Wels im Aquarium, das in den Praxistresen integriert ist. Bisher habe ich nie daran gedacht, seine beruhigende Art zu erwähnen, dabei hatte er mich schon bei meinem ersten Besuch zumindest ein klein wenig vor meiner Panik abgelenkt. Wie sehr sich in der Zwischenzeit meine Einstellung zu zahnärztlichen Maßnahmen geändert hat…

 

Auftritt Doc Palme. Freundlich begrüßte er mit Handschlag alle Anwesenden mit Ausnahme des Welses und deutete auf den hämischen Gipsgrinser in Julias Händen. Ich hatte ihn sofort als mein maMamo (marodes Maulmodell) identifiziert. „Das ist doch hoffentlich jetzt fertig, Julia?“ Diese grinste und nickte. Inzwischen hatte Ines mir geschrieben, dass der Obstkorb endlich komplett war und so wartete ich ungeduldig auf ihre Ankunft in der Praxis. Mein hökstpersönliches Drehbuch hatte im Vorfeld analog zu unserem ersten Besuch einen gemeinsamen rumpentrumpigen Auftritt MIT Obstkorb beschrieben, aber daran hielt sich leider niemand. Wer führt hier eigentlich die Regie? Dummerweise war der Patient vor mir viel zu schnell fertig. Beklommen reagierte ich auf Doc Palmes Aufruf und betrat den Grünen Salon. „Heute stellen wir alles fertig“, freute sich mein Zahnarzt. Ich drückte ihm das vorläufige „Zahn um Zahn“-Cover in die Hand und versprach ihm das Ausdrucken desselben, worüber er sich sehr erfreut zeigte. Danach gab ich bei Nadine die Löffel ab. Die Abdrücke, die mich seit Wochen begleitet hatten, würde ich nicht mehr brauchen. Ich machte es mir im grünen Liegestuhl so bequem wie möglich.

 

Ein sehr tatendurstiger Dirk Palme drohte mit der Entfernung der Provisorien ohne Betäubung und zog dieses Vorhaben knallhart durch. Das war ohne weitere Kollateralschäden auszuhalten. Danach teilte er mir mit, dass wir vereinbart hatten, die Kariessanierung von Nr. 46, Smaugs kleinem Bruder, im Rahmen der Fertigstellung durchzuführen. Das hatte ich schon gar nicht mehr auf dem Schirm gehabt. Dennoch wies ich kühn auf die noch maroden Schneidezähne im Oberkiefer hin, die ebenfalls gern abgefüllt werden wollten. „Stimmt, das hatten wir so besprochen“, nickte Doc Palme und inspizierte meine oberen Durchschüsse interessiert. „Das ziehen wir heute alles durch!“ Oh hauerha, dieser Überschwang an Motivation ließ mich Schlimmes ahnen. „Geht das ohne Spritze?“, fragte der Doc harmlos. „NEINNN!!!!“ „War ja nur ‘ne Frage“, grinste er zurück und bat Nadine um die erforderlichen Anästhetika. Oben rechts der Einstich war wieder mörderisch und ich jaulte laut auf. Mein rechtes Auge weinte bitterlich, konnte den Schlächter von Connewitz aber nicht umstimmen. Er ließ nicht locker, sondern bohrte noch weitere Vodoo-Nadeln zentimetertief in mein (Zahn-)Fleisch. Zum Glück kündigte in diesem Moment die Empfangsschwester eine vorläufige Rettung an: „Hier ist eine Frau, die unbedingt zu Frau Versen will. Geht das?“ „Das ist bestimmt Frau Ebert, das ist OK!“

 

 

 

Gefolgt von Ines betrat ein etwas größerer Obstkorb den Grünen Salon. „Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen und Ihrem Team für alles bedanken, was Sie für mich getan haben.“, sagte ich schon leicht betäubt. „Sie haben dafür gesorgt, dass ich meine Zahnarztphobie losgeworden bin.“

 

Dirk Palme deutete auf die beiden Vorher-Nachher-Kameraden:

 

„Haben Sie die selbst gestrickt?“ Er dankte mir freundlich und ließ mich wissen, dass sie den Korb in der Praxis behalten würden, damit alle etwas abbekommen. „Das nehme ich nicht mit nach Hause!“ „So ist das auch gedacht!“, äußerte ich mich zufrieden, bevor Ines und mit ihr die Rettung wieder verschwanden.

 

Das Drama nahm seinen unaufhaltsamen Verlauf. Doc Palme ging mit dem gezückten Bohrer auf mich los. „Geht das?“ Nö. Aber hilft ja nüscht…. In meinem Maul sprudelte das Kühlwasser lustig. Inzwischen musste Doc Palme doch bereits sämtliche Schneidezähne weggefräst haben…? Eine kleine Pause zwecks Bohrerwechsel. Der Doc kramte in einer Schublade. „Und wie gefällt es Ihnen heute, Frau Versen?“ „Ganz, ganz toll. Ich genieße das alles. Ich brauche das!!!“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Noch so ‘ne Perverse!!!“, gluckste es zurück. „Ich bin nämlich auch pervers, ich brauche das auch!“ Die Bohrerablösung entpuppte sich als Rüttelplatte. Es vibrierte wie blöd an meinen gefühlt nicht mehr existenten Schneidezähnen. Schließlich begann der Doc, die Bohrlöcher wieder zu füllen. „So viele Füllungen mache ich sonst in einer Woche nicht!“ Julia, die Zahntechnikerin, steckte die Nase zur Tür hinein und erkundigte sich, wann wir denn nun endlich die Prothesen anpassen würden. „Das dauert hier noch ein paar Minuten. Frau Versen kommt ja aus Frankfurt und darum machen wir heute etwas mehr.“ Danach schickte sich Herr Palme an, für ein Telefonat kurz das Behandlungszimmer zu verlassen. „Nadine, Sie bleiben hier und passen auf. Frau Versen, nicht abhauen!!!“ Nadine war so lieb, mich aus der anstrengenden Beinahkopfstandposition zu befreien und wir unterhielten uns ein bisschen über die mit Abstand scheußlichsten Maßnahmen beim Zahnarzt.

 

Viel zu schnell war Herr Palme zurück. „So, jetzt betäube ich Ihnen den Zahn unten und bis das wirkt, passen wir oben schon einmal oben die Prothese an. „Nadine, eine intraligamentäre Anästhesie, bitte!“ Das Umstechen von Kandidat 46 kannte ich zwar schon, angenehmer wurde es dadurch jedoch nicht. Julia wartete bereits auf ihren Einsatz und reichte Herrn Palme das obere Ersatzteil. Es passte mehr oder weniger. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich im Folgenden kräftig zubeißen und im Wechsel dazu mit den Zähnen klappern sollte, nachdem Okklusionspapier zwischen sie geschoben worden war. „Mit welchem Zahn kommen Sie zuerst auf?“ Keine Ahnung, einige von ihnen waren immer noch harte (sächsischer Terminus technicus für benebelt bis bewusstseinsverhindert)… Zwischendurch wurde immer wieder gefeilt und geschliffen, Julia sah sich die Bescherung nach jeder Veränderung an, auch mein komischer Kopfbiss kam wiederum zur Sprache. Inzwischen hatte ich auch die untere Prothese im Maul, welches längst Überfüllung gemeldet hätte, wäre es dazu noch in der Lage gewesen. Das Einsetzen unten tat scheußlich weh. Der Nerv von Nr. 43 rebellierte. Ich wollte das unbedingt ansprechen und darum bitten, Kandidat 43 die womöglichen okkulten Löcher zu stopfen, aus denen der Nerv zu flüchten suchte, doch konnte ich aufgrund der geschäftigen Manöver in meinem Mund nicht reden. Als ich den Missstand gefühlte Ewigkeiten später zur Sprache bringen konnte, erklärte mir Doc Palme, dass der Zahnhals, um den eine der Prothesenklammern liegt, der Übeltäter sei und die Beschwerden mit der Zeit nachlassen würden. Julia verschwand mit den Ersatzteilen, um sie nachzuarbeiten und Doc Palme konsultierte schnell einen Patienten mit Kontrolltermin im Roten Salon nebenan.

 

„Nr. 46 ist noch nicht versorgt, oder?“, fragte ich Nadine irritiert. Ich war längst nicht mehr so ganz momentan. „Das steht noch an“, erwiderte Nadine freundlich. Krach und weh, meine armen Nerven. Würde die Betäubung überhaupt so lange wirken? „Das werden wir sehen“, beruhigte (?) mich Doc Palme. Ich versuchte, mich in der grünen Pritsche zu verstecken. Klappte nicht. Obendrein saß der Doc am längeren Bohrer, mit dem er nun auf Nr. 46 losging. „Alles gut?“ Voll super, grunzte ich nonverbal. „Julia, haben Sie schon einmal gesehen, wie eine Füllung gemacht wird?“ „Ja, das kenne ich schon.“, kam von der Zahntechnikerin zurück. Als sie das letzte Mal gefragt hatte, wie lange es noch dauern würde, bis wir mit den Prothesen weitermachen, hatte der Doc von 5 Minuten gesprochen. Nach einer Viertelstunde hatte sie sich dann mit meinen Gebissergänzungen wieder zu uns gesellt. „Dann zeige ich Ihnen jetzt, wie man eine Füllung macht.“ Ihr Augenrollen konnte ich hören…

 

Als Nr. 46 schließlich repariert war, setzte Doc Palme dessen Krone ein. „Möchten Sie die Kronen oben vorher noch einmal ansehen oder soll ich sie gleich einsetzen?“ „Gleich einbauen, bitte!“ Meine Kondition lahmte inzwischen, mein Magen knurrte. Frühstück war wegen Nerven nicht gewesen und würde auch später erst einmal nicht stattfinden…

 

„Julia, wo sind denn die Prothesen?“ „Ich habe sie hinter meinem Rücken versteckt“, gab Julia verschmitzt zurück und zeigte ihre Hände mit den beiden Ersatzteillagern. Es folgte die Einprobe mit Kronen. Hier war etwas zu viel Zahnmaterial, dort zu wenig. „Bitte fest zubeißen. Ok. Und jetzt bitte wieder klappern. Ist gut. Bitte den Mund öffnen. ÖFFNEN…“ Wie jetzt, ich? Langsam aber sicher raffte ich gar nichts mehr. Gefühlt war ich schon seit 6 Stunden am Heulen und Zähneklappern. Mir wurde ein Spiegel in die Hand gedrückt. Es blitzte und blinkte. Die Kronen von Nr. 12 und 22 waren sehr schick. „Wir machen nach zwei oder drei Wochen einen Kontrolltermin. Die Teleskope sitzen noch nicht richtig, gucken Sie mal.“ Herr Palme zeigte auf das ehemalige schwarze Schwein oben links. Zwischen dem Außen- und Innenteleskop klaffte noch eine kleine Lücke. „Das beißt sich noch ein bisschen ein und den Rest korrigieren wir beim nächsten Mal. Für heute sind wir fertig!“ Wow! Erleichtert weckte ich meine Beine und versuchte, mich wieder in die Senkrechte zu bringen. Irgendwie hatte ich das Maul jetzt doch etwas zu voll genommen, bekommen, benommen… der innere Maulkorb behinderte meine Artikulation, aber mit viel Konzentration vermochte ich Wortähnliches von mir zu geben. Nadine gab mir noch einen Termin und Doc Palme versorgte mich mit einer AU-Bescheinigung für diesen denkwürdigen Tag. Ich verabschiedete mich herzlich von den beiden und dankte ihnen nochmals sehr.

 

Die Sonne strahlte fast so sehr wie ich, als ich die Bornaische Straße überquerte. Finale! Zahnstatus saniert! Beißwerkzeuge satt! Apropos – würde ich jemals wieder kauen können? In den nächsten zwei Stunden sicher noch nicht… Trotzdem, der Triumph über meine Zahnarztphobie war meiner und ich genoss ihn in vollen Zügen. Wie klein und elend hatte ich mich gefühlt, als ich 10 Monate zuvor diesen Weg das erste Mal schlich, dreivierteltot vor Angst vor dem Zahnarzt Dirk Palme. Wie sehr hatte ich mich geschämt. Ich hatte mich nach Hilfe gesehnt und gleichzeitig nichts mehr gefürchtet…

 

Und jetzt habe ich es hinter mir. Ich bin so dankbar.

 

Ihnen, lieber Herr Palme und Dir, meine liebe Ines.

 

 

Herzlichen Dank für den Weg und das Ziel.

 

 

 

16. Mai 2017 – Tag 1 nach dem Finale

„Du siehst aus wie etwas, das die Katze reingeschleppt hat und nicht fressen will.“, beschrieb mich Ines am Morgen danach. Genauso fühlte ich mich auch. Schon am Vortag gingen mir die fremden Rocky Mountains in meinem Mund und der übermäßige Speichelfluss, der offensichtlich die Fremdkörper aus meinem Mund spülen wollte, erheblich auf den Senkel. Nur zu gern hätte ich die Prothesen im Meckelbecker See versenkt… Ich hatte im Lauf des Nachmittags und Abends noch sehr viel mehr konstruktive Ideen, Herrn Palme die Störenfriede irgendwie wieder unterzujubeln, woraufhin Ines trocken meine charmante Art, das Ganze schweigend zu ertragen, lobte.

 

 

17. Mai 2017

Ich kann nicht mehr.

Das liegt zu einem sehr großen Teil am Moloch Arbeit, der mir seit fast einem Jahr sehr, in den letzten vier Wochen jedoch extrem zugesetzt hat. Zu viele Imponderatten waren zusammengekommen und selbst mit massig Überstunden und einer sehr konzentrierten und rationalen Arbeitsweise mit knallharten Prioritäten konnte ich es kaum schaffen, allen Anforderungen gerecht zu werden.

 

Erschwerend kam hinzu, dass ich während der letzten Wochenenden unterwegs zu Hause war (diesen Terminus habe ich von meinem Filius, dem Lokführer, geklaut), so dass der Haushalt während meiner nicht vorhandenen Freizeit erledigt werden musste. Fazit – ich bin durch, aber sowas von. Total übermüdet, fix und alle. Der Moloch lässt meinem Leben zu wenig Raum.

 

Inzwischen mag mein Mund überhaupt nicht mehr. Nicht reden, nicht lachen, nicht essen, nicht schlucken... Er wehrt sich vehement gegen die fremden Ersatzteile, versucht, sie mit aller Kraft abzustoßen. Auszuspucken. Meine Zunge hat schon versucht, sich im entzündeten Rachen zu verstecken. Sie ist die vielen Bisse der „Neuen“ leid. Die Mundschleimhaut in den beiden oberen Kieferwinkeln ist extrem verstimmt. Es ist ihr zu eng geworden. „Wir sind jahrzehntelang ohne die dicken Felsbrocken in den Ecken klargekommen“, so die einhellige Meinung der alteingesessenen Zähne, die schon wieder vergessen zu haben scheinen, dass sie vor nicht allzu langer Zeit marode, poröse Schatten ihrer selbst waren. „Wir brauchen die kühnen Heavy Metal - Konstruktionen nicht, spuck sie endlich wieder aus“, so die einhellige Meinung meines bisherigen Mundes.

 

Vorhin war ich fast so weit, mich dieser Ansicht anzuschließen. Das Abendessen (Kartoffelsuppe mit Würstchen) frustrierte mich zutiefst. Dabei hatte ich mir für heute extra etwas Einfaches ausgedacht, nachdem seit Montagmittag die meisten Versuche, feste Nahrung aufzunehmen, kläglich gescheitert waren. Die Suppe ging ja noch – bis auf die Tatsache, dass sich an den unmöglichsten Stellen in meinem Mund Reste von ihr sammelten und nicht in der Speiseröhre verschwinden wollten. Aber das Würstchen… wie habe ich bloß früher Würstchen gekaut? Vor allem musste ich mir nichts dabei denken, nicht einmal, als ich nur noch zweieinhalb Restzähne hatte. Und heute? Das neue Chewing Center rechts fühlte sich nicht zuständig. Links nervten die Teleskope. Die alten Schneidezähne plusterten sich selbstgefällig auf, waren sie doch die einzigen, die wussten, wie Würstchenhaut kaputtzubeißen geht…

 

Ich hatte das unangenehme Gefühl, mit Metall auf Metall zu beißen und bildete mir von den Ersatzteilen ausgehende Stromschläge ein. Meine wunde Zunge schaffte es nicht, die Kartoffelsuppenreste Richtung Ösophagus zu räumen. Der Schlund weigerte sich zu schlucken. Seit Montagabend fühlt er sich an, als wolle er eine Mordserkältung ausbrüten. Bisher schnüffrotzt jedoch nix. Ines hatte bestimmt Recht – auch die Halslymphknoten wehren sich gegen den Belagerungszustand… Auch das Sprechen funzte heute nicht mehr so gut wie gestern. Vielleicht, weil mir meine Zunge so wehtat. Sie schien ständig an den Metallbügeln hängenzubleiben. Zs wollten nicht rauskommen, „Tschüss“ war eine Herausforderung. Es fiel mir zunehmend schwerer, auf die Fragen meiner Kollegen zu antworten. Freiwilliges Sprechen fiel daher nachmittags aus.

 

Schniefend verzog ich mich ins Bad und expolkierte die internen Maulkörbe. Sie zeigten mir hämisch die karge Speisekarte dieses Mittwochs. Bäääh! Ich spülte die Reste ab, putzte beide Prothesen, ertappte mich bei dem Wunsch, sie einfach im Klo zu versenken. Mein Mund entspannte sich merklich. Endlich wieder Platz! Freiheit!!!

 

Ich spülte ihn mit Mundwasser, putzte die verbliebenen Motzkoffer und versuchte, die Druckstellen in den oberen Kieferwinkeln mit einer schmerzstillenden Creme zu verarzten. Die Creme blieb an meinem Zeigefinger kleben. Frustriert sank ich auf’s Klo und erlaubte meinem Selbstmitleid, erst einmal eine Runde zu heulen. Schnauze überfüllt!!!

 

Und nun…?

 

Beim frustrierten Meditieren auf dem Klo fiel mir auf, dass sehr viele Buchstaben aus dem Wort ‚Katastrophe‘ in ‚Prothese‘ vorkommen. Katastrophe – die entscheidende Wendung in einer Tragödie. Würde diese Katastrophe für eine Katharsis reichen oder doch nur in einem gemeinen Katarrh enden?

 

Die Idee, die äußeren Enden der oberen Prothese mit der Lidocain-Creme einzureiben, war gar nicht mal so dumm. Schnell war das Ersatzteil wieder an Ort und Stelle. Wie von Geisterhand folgte ihr auch die untere Prothese. Ich war wieder komplett. Und bereit, es noch einmal im Guten zu versuchen…

 

 

Nacht von Donnerstag auf Freitag (18./19. Mai 2017)

Tiefschlaf bis 0:30, danach plagten mich wie in den vorherigen Nächten grässliche Alpträume, Schmerz und Elend. Mein Rachen war zugeschwollen, besonders auf der linken Seite, wo die obere Prothese hinter dem Tuber den Gaumen quälte. Immer wieder nickte ich ein und wurde sofort wieder von meinen eigenen seltsamen Röchelgeräuschen geweckt. Noch höher konnte ich den Kopf nicht legen… mein linker Kieferwinkel und der Rachen taten höllisch weh, aber ich wollte die Prothese nicht herausnehmen, um die Gewöhnung an sie nicht zu verzögern. Um 04:30 war ich am Ende und entfernte das Zahnmonster. Schlief ein und wurde eine halbe Stunde später vom Wecker aus dem Schlaf gerissen. Termin beim Diabetologen noch vor der Arbeit, also zickzack ins Bad. Ich tat mir verdammt noch mal Leid. Wollte kotzen und heulen gleichzeitig. Der Blick in den Spiegel bestätigte meine Atemnot. Mein Rachen war auf der linken Seite knallrot, das Gaumenzäpfchen hing traurig nach links und alles war zugeschwollen. Das Schlucken tat entsetzlich weh. Die Prothese hatte eine pfeilartige weiße Läsion in meinen linken Kieferwinkel geritzt… und obendrein fand dieser unwürdige Tagesanfang ohne Kaffee statt, weil ich nüchtern in der Praxis erscheinen musste...

 

Also erst einmal zur Wiederbelebung unter die Dusche, danach zum Zuckerdoc und in die Firma. Zwei Eimer Kaffee halfen mir bei der Bearbeitung meines überfüllten Postfachs. Mein Magen knurrte vernehmlich und so versuchte ich, ein wenig weiches Müsli zu schlucken. Vorsichtiges Kauen machte keine Lust auf mehr, es schmerzte noch immer fürchterlich. Ich war verzweifelt, am Ende, konnte und wollte nicht mehr. Heulen hätte mir nicht weitergeholfen, daher verzog ich mich mit meinem Handy in einen Besprechungsraum, rief in der Zahnarztpraxis an und vereinbarte für Montag einen Notfalltermin. Danach ging es mir etwas besser, die Lage war zwar immer noch beschissen, aber nicht völlig aussichtslos. Ich versuchte, die Schmerzen zu ignorieren und stürzte mich in die Arbeit. Wenn ich am Montag tatsächlich wieder fehlen müsste, galt es, vorzuarbeiten. Insgeheim hatte ich noch die Hoffnung auf eine wundersame Heilung am Wochenende.

 

Diese erfolgte jedoch nicht. Auch wenn es mir nach einigen Pudelmützen Schlaf sehr viel besser ging und sich der Schlund am Samstag deutlich abgeschwollen zeigte, blieb die Schleimhautwunde unverändert. Die obere Prothese war nur zu ertragen, wenn ich ihre linke obere Ecke mit Lidocain-Creme zukleisterte. Zum Essen und zur Erholung flogen die mobilen Beißheimer gnadenlos raus.

 

 

22. Mai 2017

Juchuh, das Leben hat wieder einen Sinn! Verklärt grinsend (richtig breit, da schmerzlos!!!) sitze ich ja wo wohl… im ICE nach Hause. Einigermaßen verzagt bin ich gestern Abend in Leipzig angekommen, war mir inzwischen nicht mehr ganz sicher, ob ich mich vielleicht doch bloß anstelle und zu empfindlich bin. Nach einem längeren Blick in mein Maul und ärztlicher Inspektion des wunden Kieferwinkels zerstreute Ines meine Bedenken. „Das ist nicht nur eine Druckstelle, sondern eine Schleimhautwunde. Hier muss etwas geschehen!“

 

Zunächst passierte mir ein sehr leckeres Abendessen, das mir ohne die störenden Beißheimer hervorragend mundete. Die Nacht verbrachte ich wiederum komplett. Sehr früh morgens meldete ich mich per E-Mail (Standardverfahren in unserer Firma) krank und hoffte beklommen auf eine rechtfertigende AU-Bescheinigung von Herrn Palme.

 

In seiner Praxis war um 11:00 Uhr allerhand los. Während ich mit der sehr kompetenten Schwester Jenny eine Frage zur Abrechnung besprach, hörte ich von hinten eine mir inzwischen sehr vertraute Stimme: „Frau Versen, haben Sie schon wieder Sehnsucht nach mir?“ „Aber sowas von. Drei Wochen ohne Sie hätte ich nicht ausgehalten, darum bin ich heute schon wieder hier.“ Alles lachte. „Möchten Sie noch zu mir in den Stuhl?“ „Ja bitte, ich habe ziemlich heftige Beschwerden hier.“ Ich deutete vage auf meinen linken Oberkiefer. „Klar, machen wir!“ Lächelnd verschwand mein Zahnarzt und ich nahm erst einmal Platz. Der tröstende Wels schien bereits seinen Mittagsschlaf zu halten und auch rechts neben mir schnarchte es vernehmlich. Der ältere Herre hatte seinen Kopf auf seinen Stock gestützt und wusste die Wartezeit sinnvoll zu nutzen.

 

Schließlich bat mich Nadine in den Roten Salon, den auch Herr Palme enterte, bevor ich mich setzen konnte. Ich schilderte meine Beschwerden. Er nickte. „Das sind die üblichen Druckstellen, die während der Gewöhnung an die Prothesen auftreten können.“ Das sah ich anders, behielt das aber für mich und öffnete stattdessen meinen Mund. Spiegel rein, professioneller Blick. „Nein, das ist nicht normal. Die Schleimhaut ist verletzt, die Prothese übt dort zu viel Druck aus. Nadine, holen Sie bitte Julia!“ Ich erzählte Doc Palme vom Horrorfreitagmorgen und er versprach mir Abhilfe. Der Zahndoc zeigte Julia die Läsionen mit und ohne Prothese. „Gut, dass Sie gekommen sind!“, meinte die Zahntechnikerin. „Da muss was weg!“ „Mindestens ein halber Quadratmeter“, antwortete ich. Herr Palme schlug vor, einen größeren Bereich oben links wegzunehmen. Julia sprach sich dafür aus, mehr vom Material zu belassen, falls die Prothese irgendwann um einen Zahn ergänzt werden müsse. Daraufhin inspizierte Herr Palme meine letzte obere Hausnummer 26 und konstatierte, dass dieser noch eine Zeitlang halten würde. Die beiden einigten sich schließlich auf den wegzufräsenden Bereich. Julia verschwand mit meiner Prothese. Dirk Palme bejahte meine Frage nach der AU-Bescheinigung und erklärte mir, dass Julia mir später die Prothese wieder bringen würde. Vorsichtshalber verabschiedete er sich schon einmal von mir, nicht aber ohne vorher bekräftigt zu haben, dass ich den Kontrolltermin in gut zwei Wochen unbedingt wahrnehmen solle.

 

Zufrieden wartete ich auf Julias Rückkehr. Es bestand tatsächlich Hoffnung! Ich staunte nicht schlecht, als Julia mir einige Minuten später die bearbeitete Prothese unter die Nase hielt. Sie hatte tatsächlich den störenden halben Quadratmeter amputiert. „Cool, davon habe ich das ganze Wochenende geträumt!“

 

Lächelnd bat sie mich, die Prothese einzusetzen. Wow! Nichts tat mehr weh! Meine Begeisterung darüber war offensichtlich ansteckend. Auch Julia strahlte jetzt. „Das Leben hat jetzt wieder einen Sinn!“ Kurz fasste ich mein Leid der vergangenen Woche zusammen. „Normalerweise dient der jetzt entfernte Teil der Prothese zum Schutz. Bei Ihnen war das dann leider anders.“ „Bei mir ist immer alles ein bisschen anders“, seufzte ich grinsend. „Beim Gipsmodell schien noch so viel Platz zu sein. In Ihrem Mund ist dieser Bereich jedoch außergewöhnlich eng.“ War mir klar, dass ich dem heimtückischen Gipsgrinser die mörderischen Schmerzen zu verdanken hatte! Ich erzählte, dass ich bei der Einprobe vor einer Woche den Endbereich der Prothese auch auf der anderen Seite als unangenehm empfunden hatte, sich das Gefühl aber nach ein paar Tagen legte, während es links immer mehr schmerzte. Aber das war ja nun Vergangenheit! Julia versorgte die Läsion im Kieferwinkel mit Creme, ich baute die nun schmalere Prothese wieder ein und schüttelte Julia hocherfreut die Hand. Was für eine sagenhafte Erleichterung!!!

 

 

Überglücklich hüpfte ich zu Ines nach Hause und vernahm von ihr die frohe Kunde, dass sie inzwischen die endgültige Zusage für ihren neuen Job ab 15. Juni 2017 im Krankenhaus Zeitz bekommen hatte. Was für ein rumpentrumpentriumphaler Montag!!! 

 

 

06. Juni 2017

Inzwischen tut mir nichts mehr weh. Allerdings hat meine untere Prothese ein Eigenleben geführt, seitdem mein Mundwerk nicht mehr geschwollen ist. Sie konnte es überhaupt nicht abwarten, sich in mein Essen zu verbeißen und hüpfte ihm daher fröhlich entgegen. Vielleicht hatte sie der gemeine Gipsgrinser auch davor gewarnt, sich bei mir einen festen Wohnsitz zu suchen, jedenfalls erwachte ich eines Nachts davon, dass meine unteren Neuzähne auf der Zunge tanzten. Gähnen ging auch nicht mehr verlustfrei, aus der Flasche trinken sowieso nicht. Geschweige denn Kauen!

 

Zeit, Herrn Palme nochmals notfallmäßig auf den Keks zu gehen, hatte ich auch nicht mehr, denn schließlich stand meine Reise ans Ende des Abendlandes, nach Sagres an der äußersten Südwestspitze Portugals, unmittelbar bevor. Während der überwältigend schönen sieben Tage dort setzte ich mir die Prothese konsequent erst nach dem Essen ein, denn es macht nicht unbedingt den besten Eindruck, während des Frühstücks im Hotel die Beißheimer neben den Teller zu legen. Wobei das die erstarrten Leichenbittermienen um mich herum sicherlich motiviert hätte, die Mundwinkel ganz nach unten zu ziehen. Immerhin trug ich jeden Tag für ein paar Stunden sämtliche Zähne spazieren. Allerdings muss ich zugeben, dass meine Compliance deutlich nachließ, zumal mir mein Leben ohne Zahnersatz viel angenehmer erschien – eine Inkorporation der neuen Bakenfalterersatzteile fand während des Urlaubs eher nicht statt.

 

Nur gut, dass ich knapp zwei Tage nach meiner Rückkehr einen Kontrolltermin bei meinem Zahndoc hatte. Dirk Palme fragte interessiert, wie es mir denn mit dem Zahnersatz ginge, ob ich mit dem Erscheinungsbild klarkomme. Er zeigte sich deutlich enttäuscht, dass ich mit den neuen Beißheimern nicht essen konnte und betrachtete die Zustände in meinem Mund kritisch. Mit der oberen Prothese waren wir beide zufrieden; sie saß gut. Die untere hingegen zeigte sich auch Herrn Palme gegenüber viel zu locker. Mein Zahndoc demonstrierte der ebenfalls anwesenden Zahntechnikerin Lissy den Status, der auch sie frustrierte. Die beiden berieten, was zu tun war. Guter Rat war teuer, denn zum einen hatte ich nur einen kurzen Kontrolltermin und zum anderen konnte nicht mehr viel an den Halteklammern gebogen werden. Aufwendigere Halteapparaturen würden jedoch dazu führen, dass ich die Prothese nicht mehr entfernen könnte. Auch nicht gut! Lissy bot an, soviel zu biegen wie möglich und verschwand mit meinen unteren Beißheimern. „Tragen Sie die Prothesen aber trotzdem!“ Klar, nach dem Essen spazieren, ähemm. Herr Palme warnte mich eindringlich vor eigenhändigen Manipulationsversuchen an den Metallteilen. „Versuchen Sie bloß nicht, an der Tischkante die Prothese zu verbiegen!“ Hatte ich so gesehen auch nicht vor. Er musste ja nicht wissen, dass ich in den letzten Tagen aus Frust allabendlich tüchtig in die Tischkante gebissen hatte. „Das Material ist kaum flexibel, das ist eine Legierung, die sehr schnell brechen kann.“ Das wollte ich selbstverständlich nicht riskieren. Dirk Palme erklärte mir, dass meine Halte-Zähne nicht mehr so aussehen, wie sie es sollten. Hierzu fertigte er mit einem roten Filzstift eine Zeichnung an, die entfernte Ähnlichkeit mit einem Herz hatte und einen „normalen“ Zahn darstellen sollte und fügte die Klammern hinzu, die an diesem Beißheimer Halt finden würden. Meine Zähne hingegen verglich er mit Osterhasen und zeigte eine zweite Zeichnung, dieses Mal von meinen komischen Zähnen, die einer Klammer mangels Rundungen zu wenig Halt boten. „Bei mir ist sowieso immer alles ein bisschen anders“, seufzte ich. Das Auditorium (es waren noch ein anderer Zahnarzt, Nadine und noch jemand im Grünen Salon) und ich lachten.

 

Lissy kam zurück und Herr Palme setzte mir die untere Prothese wieder ein. Ich konnte den Bügel hinter den Vorderzähnen jetzt nicht mehr einfach so mit der Zunge lockern, wunderbar. Auch unten rechts hielt die Konstruktion jetzt besser. „Das wird sich durch das Rausnehmen und wieder Einsetzen aber wieder lockern“, äußerte sich Herr Palme kritisch. „Sie können einfach zu uns kommen, wenn es zu locker wird!“, bot Lissy an. „Wir Zahntechnikerinnen sind ja immer da.“ „Frau Versen lebt aber Hunderte von Kilometern entfernt, das würde sehr aufwendig“, nahm mir mein Zahndoc jetzt nicht die Prothese, sondern nur die Worte aus dem Mund. Eine richtig gute und schnelle Lösung des Problems schien es nicht zu geben und so einigten wir uns darauf, dass ich es mit der nachgebogenen Prothese jetzt einfach versuchen sollte. Nadine nahm mir zum letzten Mal den Schlabberlatz ab, während Herr Palme mich nachdenklich ansah und meinte: „Irgendwas wollte ich Ihnen jetzt noch sagen, aber das habe ich vergessen.“ Er bat mich, Ines zu grüßen und teilte mir mit, dass das Obst sehr lecker war. Außerdem hätten die gestrickten Zähnchen inzwischen ein neues Zuhause bei Bernie gefunden, nachdem sie praxisintern verlost worden waren.

 

 

Wir verabschiedeten uns herzlich voneinander und ich bedankte mich noch einmal für alles. Vorausgesetzt, dass ich mit meinen neuen Beißheimern vernünftig kauen lerne, ohne dass sie mich dabei fluchtartig verlassen, ist Zahn um Zahn nun endgültig vorbei…

Vorher… :-(

 

Ines und ich 2015 in Dimmu Borgir am Myvatn in Island

  

Die scheußlichen Zahnstümpfe und Wurzelreste weiter hinten entziehen sich gnädig dem Auge des Betrachters. Der endgültige Zustand des Grauens war hier noch nicht erreicht, denn der Schneidezahnrest von Nr. 12 sollte erst im darauffolgenden Winter noch rausfallen, bevor ich mich und mein Tackergebiss im Juli 2016 dem Schlächter von Connewitz anvertraut habe...

 

Hinterher!!!  :-)))

 

Das Maul ist wieder voll (und) gesund!

Juni 2017 in Sagres, Portugal

 

 

 

 

 

12. September 2017, so gesehen von Corwin von Kuhwede (dieses Shooting war angesichts meiner dentalen Heldentaten ein Geschenk von Ines und meinem Filius Benni).

Epilog

Am 12. September lachte ich nicht nur Corwin in die Linse, sondern später auch Dirk Palme ins Gesicht. Inzwischen hatte ich mich an meine neuen Beißheimer gewöhnt und selbst das Essen in Gesellschaft gelang überwiegend unfallfrei. Die Prothese oben saß perfekt, während das untere Gebissteil leider wieder zunehmend schlotterte. Diese Tatsache entzückte meinen Zahnarzt mitnichten. Wir besprachen, dass ein dauerhafter, perfekter Halt bei einer Klammerprothese leider nicht immer zu erreichen sei. Das muss ich wohl oder übel akzeptieren. Herr Palme nahm sich daraufhin die renitente Beißleiste zur Brust und aktivierte die Klammern, d. h., er stellte sie intensiv nach, so dass ich nach dem Wiedereinsetzen das Gefühl hatte, die Prothese nie wieder entfernen zu können. Abschließend verlieh er seiner Hoffnung Ausdruck, mich frühestens in einem halben Jahr zur Routinekontrolle wiederzusehen, was mich sehr erheiterte. Und erfreute – immerhin war ich wenigstens im Hinblick auf meinen Zahnstatus jetzt ein normaler Mensch!

 

Inzwischen ist es November geworden und ich komme noch immer gut mit meinem Zahnersatz zurecht. Es ist ein Genuss, endlich wieder hemmungslos Lachen zu können, was mir ganz besonders während eines Vorstellungsgespräches im September positiv aufgefallen ist.

 

Der ganze lange, beschwerliche und zeitweise auch sehr schmerzhafte Weg hat sich gelohnt, insbesondere auch die langwierige Gewöhnung an die Prothese.

 

Durchhalten lohnt sich auf jeden Fall!

 

Und den neuen Job ab Januar 2018 habe ich auch bekommen :-)

 

 

 

Regina Versen, 1. November 2017