Hospitalismus verschärft

 

26. Oktober 2018

 

08:50 Uhr

Es ist gut 15 Jahre her, dass ich in ein krankes Haus eingeritten bin. Vielleicht hätte ich diese Abstinenz lieber nicht mutwillig unterbrechen sollen…

 

Von inzwischen wachsenden Zweifeln gebeutelt sitze ich seit zwei Stunden freiwillig hier ein und plane bereitz die Flucht. Dabei hatte ich mir diesen Aufenthalt in Ines' krankem Haus in Zeitz (Burgenlandkreis, Sachsen-Anhalt) ausdrücklich gewünscht, weil mich immer wieder Schwindelattacken quälen und eine sehr niedrige Herzfrequenz mit Stolperhüpfern erschrecken und sich inzwischen der bei mir fest installierte Hypochonder hyperaktiv zu Wort meldet. Wenn es nach ihm ginge, müsste ich schon längst klinisch mausetot sein…

 

Ich wünsche mir eine komprimierte (Ausschluss)-Diagnostik und habe im Vorfeld zugesagt, eine Nacht im kranken Haus zu bleiben, damit die kranke Kasse auch ein MRT der Halswirbelsäule blecht. Schlotternd vor Angst stieg ich daher um kurz vor 06:00 mit Ines in ihre Frau Üpsilon, um sie zum Dienst zu begleiten.

 

 

 

Die Diagnostik begann um kurz nach 07:00 Uhr mit heftigem Blutvergießen durch Ines' Kollegin, die sympathische Stationsärztin Jane T.  Meine Prachtvene übertrieb maßlos und spendete viel mehr Blut als nötig. Danach durfte ich zum EKG in die freundliche Funktionsdiagnostik.

 

Auf dem Rückweg erledigte die stellvertretende Stationsleitung noch ein paar Formalitäten mit mir, denen ich entnahm, dass sie mich hier 4 Tage minztens aufbewahren wollten. Nope! Noch schräger wurde es, als sie mir Vorschriften bezüglich meines Diabetes-Managements machen wollte. Nicht einfach spritzen, ohne vorher zu fragen. Vor den Mahlzeiten misst das Pflegepersonal und das in mmol/l, wie es in den östlichen Bundesländern Usus ist, und dann sollte ich von diesem mir fremden mmol/l-Wert (ich bin doch nur Wessi und mg/dl gewohnt) ausgehend sagen, was ich spritze. What? Bei aller Compliance habe ich weder mein Hürn noch meine Eigenverantwortung bei der Patientenaufnahme abgegeben, was ich aber diplomatisch für mich behielt. Im weiteren Verlauf ist mir glücklicherweise schnell wieder eingefallen, wie man auch ohne Internet Millimöler/Liter in Milligrämmer pro Dezibel umrechnet. Ich habe den Schwestern sämtliche Blubbzuckerinfos, die sie haben wollten, gegeben und den Typen dennoch selbst gemanagt. Wobei es mangels Frühstück nichts zu beißen gab, denn ich musste wegen der Kipptisch-Untersuchung nüchtern bleiben. Mein Magen knurrte empört.

 

 

Das MRT der HWS fand ganz plötzlich statt, danach gleich Röntgen Thorax sowie das Röntgen meines appen rechten Fußes. Sein Sprunggelenk meinte schon auf Kreta, zunehmend schmerzen zu müssen. Montag und Dienstag konnte ich in der Firma und vor allem auf dem Heimweg kaum noch laufen und humpelte zwecks AU-Bescheinigung und KH-Einweisung am Mittwochmorgen zum Hausdoc– voll das Wrack. 

 

Das MRT war heftig, insbesondere, weil der Partner meines kleinen Freundes (Blutzucker-Sensor) nicht mit rein durfte und ich ihn trotz seines noch sehr jungen Lebens (er hätte noch 13 Tage unblutig messen können) killen sprich entfernen musste. Meine Hinterrübe wurde in eine enge Schale gelegt und dann in Tateinheit mit Polstern und einer Maske fixiert. Danach wurde es richtig lustig, als ich bis zur Hüfte in die Röhre verklappt wurde. Scheiße, war das eng. Ich wollte gerade Panik bekommen, besann mich dann aber doch noch eines Besseren, atmete tief ein und hielt es aus. Der arme Sensor sollte nicht umsonst gestorben sein. Darüber hinaus habe ich in meinem Alltag mit Stressjob weder Zeit noch Muße, mich um einen MRT-Termin zu kümmern und diesen dann auch wahrzunehmen. Und wozu bleibe ich hier über Nacht…

 

Nach diesen klaustrophobischen 20 Minuten war ich komplett durch – mich schwindelte es heftig und ich raffte ersma nix, wähnte mich unter Drogen, bis mich eine sehr zuvorkommende Röntgenassistentin sozusagen unter den Arm klemmte und angenehmeren bildgebenden Maßnahmen (Röntgen Thorax und Humpelfuß) zuführte. 

 

Danach schluffte ich erleichtert zurück auf Station M2, musste aber flugs mein zwecks Päuschen aufgesuchtes Bettchen wieder verlassen, um unter Aufsicht eine Waage zu besteigen, sehr peinlich. Mein spochtlicher Diagnoseplan kannte keine Gnade – zickzack zurück in die Funktionsdiagnostik zum Herzecho. Hier wartete ich einige Zeit und beobachtete den regen Betrieb. Schließlich fand ich mich spärlich bekleidet auf einer abgedunkelten Untersuchungsliege wieder. Oberarzt R.  zeigte mir detailliert, wie mein Herz arbeitet und war damit zufrieden. Auch die Aorta zeigte sich seiner kritischen Überprüfung gewachsen. Selbst die von mir so gefürchtete Doppler-Sonographie der Carotiden (Halsschlagadern) ergab der Zwangsehe mit dem 34jährigen Typen und Hypochonders unheilvollen Unkereien zum Trotz einen altersentsprechenden Normalbefund und nicht die totale Kalkverstopfung, die ich mir in den letzten Monaten so erfolgreich eingebildet hatte. Leber, Milz und Nieren sind auch OK. Oberarzt Dr. Jörn R. ist ein Phänomen. Ein Arzt auf dem Gaspedal – unglaublich schnell und beeindruckend kompetent zugleich. Während der Sonographien erklärte er mir in gezielten Maschinengewehrsalven interessante Zusammenhänge zwischen Langzeit-Typ I – Diabetes und Thiamin (Vitamin B1)-Mangel im Sinne einer Mitochondriopathie, die zu Erschöpfungszuständen führt. Diesem Hinweis werde ich auf jeden Fall nachgehen, denn das würde zu meiner in den letzten Jahren zunehmenden Müdigkeit und Antriebslosigkeit passen. Lächelnd ging der Oberarzt dann noch auf Ines' Engagement bezüglich der an mir durchzuführenden zahlreichen Untersuchungen ein: „Bis auf eine Lebendsektion hat Frau Ebert nichts ausgelassen.“ 

 

 

Auf der Überholspur ging es nebenan weiter mit dem nächsten Diagnostik-Event, zu meiner großen Freude von Ines durchgeführt. Zunächst fand ich das alles noch sehr amüsant, als ich noch recht entspannt in der Horizontalen rumgammeln durfte. EKG- und Blutdruckmonitoring nervten nur peripher und die eigenartige Pritsche war unbequem, so dass ich  Schwester Claudia erzählte, dass ich dieses Hotel nicht weiterempfehlen würde. Wir frotzelten zu dritt herum, als die Pritsche zu einer schiefen Ebene wurde. Lediglich ein unbequemer Fahrradsattel verhinderte meinen Absturz in die Katakomben des Klinikums. Meine langen Baken baumelten ins Leere. Die Schwester verabreichte mir drei Hübe Nitro zur Gefäßweitstellung auf die Zunge. „Dauert das noch lange?!!!“, fragte ich nach immerhin 120 langen Sekunden. „20 Minuten“, antwortete das medizinische Folterpersonal.

 

Der seltsame Sattel drückte, mein Rücken beschwerte sich über das hohle Kreuz, doch noch nahm ich die Situation mit Humor. Ines beobachtete mich aufmerksam und erkundigte sich immer wieder nach meinem Befinden. Das fand ich ein wenig übertrieben, denn es ging mir doch bis auf ein wenig Kopfweh vom MRT und dem Nitro ziemlich gut.

 

Nach 7 Minuten sah ich das urplötzlich ganz anders. Das heißt, ich konnte gar nicht mehr richtig gucken. Mein Durchblick wies zunächst schachbrettartig angeordnete schwarze Flecken auf und es wurde mir sehr, sehr flau, was ich auch gleich mitteilte. „Ich will, dass das aufhört…“, dekompensierte ich flehend. „Lass die Augen offen“, bat mich Ines. Das Elend mitansehen…? „Nur noch bis zur nächsten Messung“, vertröstete mich die Funktionschefin Claudia. Mir schwunden die Sinne und ich röchelte „Das geht jetzt gar nicht mehr“, aber bis zur filmreifen Ohnmacht in den Armen meiner Liebsten bekam ich den Plot dann doch nicht dramatisiert. EKG und Blutdruck wurden ein letztes Mal automatisch dokumentiert, bevor Ines meinen fahlen Kadaver flachlegte und die Baken einsammelte, um sie hoch zu lagern. Schnell wurde es mir wieder etwas besser und ich bat mit schwachem Stimmchen darum, nicht gleich im Anschluss zum HNO-Konsil laufen zu müssen. „Du gehst jetzt erst einmal nirgends hin“, konstatierte Ines trocken. „Du wirst jetzt in deinem Bett zurück ins Zimmer gefahren und bleibst mindestens eine halbe Stunde liegen.“ Das gefiel mir sehr, denn ich hatte rasende Kopfschmerzen und war ganz schön fertig. Schnell wurde ich noch mit einem 48 h-EKG verkabelt, danach Augen zu, Decke über die wehe Rübe, Mittagspause. Es war immerhin schon 13:30 Uhr. Eine Dreiviertelstunde später fühlte ich mich wieder halbwegs wie ein Mensch und nahm zum Frühstück eine abgekühlte Erbsensuppe zu mir.

  

 

Kurz danach lief ich wieder selber in Begleitung eines Pflegers zum sympathischen HNO-Doc, den ich zur Auflockerung fragte, ob er Armenier sei. Sein Name hatte mich darauf gebracht. Erfreut bejahte er dieses und wir unterhielten uns angeregt über sein wunderschönes Land, bevor er seine Untersuchung fortsetzte, hierbei jedoch keine durch das Innenohr bedingte Ursache für den Schwindel fand. Meine durch den Stressjob und die angespannte Haltung am PC sehr verspannten Hals- und Nackenmuskeln jedoch könnten schon etwas damit zu tun haben und so riet mir Dr. D., diese Muskeln während der Arbeit zu bewegen und zu Hause mit einem TENS-Gerät zu lockern. Mach ich glatt. 

 

Und dann war ich nach 8,5 Stunden fertsch mit der leistungsspochtlichen Agenda. Es folgte nach zwei Tassen Kaffee noch ein freundlicher und sehr angeregter Plausch mit der Diabetes-Beraterin, die mir zwar leider keinen neuen Sensor, dafür jedoch eine Packung Teststreifen geben konnte.

 

 

Und dann überfraß ich mich gnadenlos am frühen Abendbrot
Und dann überfraß ich mich gnadenlos am frühen Abendbrot

 

 

Danach holte ich - inzwischen allein im Zweibettzimmer - erst einmal ganz tief Luft. Gegen Abend kam Ines mit einem mobilen PC zu mir, rief sämtliche Befunde ab und sprach sie detailliert mit mir durch. Bis auf einen trotz Medikation konsequent zu hohen Blutdruck und die mittels Kipppritsche diagnostizierte vasovagale Synkope waren die Befunde im alters(heim)entsprechenden Normbereich. Ein paar exotische Laborwerte sowie die Ergebnisse des Langzeit-EKG stehen noch aus. Ich bin gespannt, ob die Bradykardien (zu niedriger Puls) und die im hausärztlichen EKG aufgetretenen ventrikulären Extrasystolen (herzliche Zusatzhüpfer) behandlungsbedürftig sind. 

 

Meine Hochachtung für Ines stressiges Wirken im kranken Haus und die Arbeit ihrer Kollegen und der Schwestern ist im Verlauf dieses Tages immens gestiegen. Bereits die Anamneseerhebung am späten Vorabend bei Ines zu Hause war genial. Professionell befragte und untersuchte sie mich und beantwortete meine neugierigen Fragen zu Details, die ich noch nicht kannte. Bei der Untersuchung im Liegen mussten wir dann aber doch grinsen, als sich zunächst Oberschwester Margarethe (aka Miez Maggie) neugierig zu mir ins Bett legte. Als dann auch noch Chefmaunz Doc Mephisto zur Visite auftauchte und meinen nackichten Rücken mit seinem Schwanz streichelte, konnten wir nicht mehr vor Lachen.

  

Herzlich danken möchte ich allen, die sich so freundlich und kompetent um mich gekümmert haben. Allen voran meiner lieben Ines, die mir diese Marathon-Diagnostik in kürzester Zeit überhaupt erst ermöglicht hat. Dann ihrem Oberarzt Dr. Jörn R., der mit Sicherheit auch noch die Lebendsektion abgesegnet hätte. Der so gar nicht geplante Umfang seiner Sonographien sowie die weiterführenden Erläuterungen zur Mitochondriopathie haben mich schwer beeindruckt. Ich danke der Stationsärztin Jane T. herzlich für ihren engagierten Einsatz dafür, dass dieses Mammutprogramm tatsächlich an einem Tag realisiert werden konnte. Und für ihre gründliche Sensor-Recherche bis hin zu einem Anruf bei Abbott, um sicherzugehen, dass der Sensor tatsächlich nicht MRT-kompatibel ist. Sr. Maritta in der Funktionsdiagnostik, die mit ihrer herzlichen Freundlichkeit während des frühmorgendlichen EKGs meine Angst vor diesem Tag zu mindern wusste. Und allen Schwestern der M2 – bitte nehmen Sie mir meine initiale Empörung bezüglich des Diabetes-Managements nicht krumm. Ich hatte in meiner anfänglichen Nervosität zunächst nicht bedacht, dass Sie tatsächlich sämtliche Maßnahmen und Medikamente in der Patientenkurve dokumentieren müssen. Und Pfleger Sebastian – mein Hinweis darauf, dass Sie mir alle Venen ruiniert haben, war schon sehr frech. Ich habe bisher noch nie erlebt, dass mir jemand Blut aus einer Handvene so schmerzfrei und ohne Folge-Hämatom entnommen hatte. Ganz großes Kino!

 

Nicht vergessen möchte ich den HNO-Arzt Dr. Samvel D. Seine Erläuterungen zur verspannten Halsmuskulatur weiß ich sehr zu schätzen.

 

Bienengarten des kranken Hauses
Bienengarten des kranken Hauses
Herbstzeitrose
Herbstzeitrose

 

 

Nach einem für mich sehr entspannten Samstag auf Station mit einem längeren Spaziergang durch den Kräuter- und den Bienengarten des kranken Hauses hat mich Ines nach einem langen Dienst wiederum mit zu sich nach Hause genommen. Ich bin froh und glücklich über die wenigen pathologischen Ergebnisse der Ausschluss-Diagnostik. Sicher war meine Panik vorher übertrieben; der dämliche Hypochonder in mir hat nun einmal eine sehr laute Stimme. Wobei viele seiner Verdachtsdiagnosen keinesfalls aus der Luft gegriffen waren. Eine 34jährige Zwangsehe mit einem Typ I Diabetes kann tatsächlich zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen insbesondere im Hinblick auf die Blutgefäße führen. Ich habe Glück, dass es nicht so ist. Und wahrscheinlich war mein Umgang mit dem Typen in all den Jahren auch nicht ganz so ferkert.

 

Inzwischen ist Sonntag. Ines, die Gute, rettet schon wieder mit Herz und Verstand Menschenleben. Meinen allergrößten Respekt vor diesem Job!

 

Und ich...? Mir geht es wieder gut. Mein rechtes Sprunggelenk hat sich nach dem kurativen Röntgen :-) und der Ruhe auf Station beruhigt, die Panik ist weg. Oberschwester Margarethe und Chefarzt Doc Mephisto schlafen friedlich in den Sonntag hinein, während ich noch ca. 2 Stunden mit den seit gestern grässlich juckenden Elektroden des Langzeit-EKGs verbringen werde. Hypoallergenes Pflaster hin oder her, ich habe mit Sicherheit! Ines' Meinung zum Trotz ausgeprägteste algerisch-lepröse Pestilenzbubonen (Bullern!) mit eitrigen Ödemen unter den fünf Pflastern...

 

Neinein, ich übertreibe zum Glück NIEMALZ!

 

 

Geheilt entlassen!
Geheilt entlassen!

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Kommentare: 3
  • #1

    Waltraud O. (Samstag, 03 November 2018 11:18)

    Gratulation liebe Regina, dass du jetzt wieder als geheilt, und von Kopf bis Fuß durchgecheckt, entlassen worden bist. Ich wünsche dir noch viele beschwerdefreie Jahre.
    Klaus war dies nicht vergönnt, wir haben ihn gestern bei seiner Tochter beigesetzt. Der Krebs hatte sich total breitgemacht und nach nur 12 Wochen über seinen Körper gesiegt.

    Deine traurige Patentante
    Waltraud

  • #2

    Regina (Samstag, 03 November 2018 11:48)

    Liebe Tante Waltraud,

    das tut mir unendlich leid. Sein Kind zu verlieren ist in meinen Augen das Schlimmste, was einem Menschen zustoßen kann.
    Fühl dich bitte lieb von mir gedrückt.

    Regina

  • #3

    Waltraud O. (Samstag, 03 November 2018 16:56)

    Danke dir, liebe Regina.