Heute ist morgen schon gestern

 

Frisch geschlüpfte Buchenblätter liebe ich. Sie sind unglaublich weich und zart.

 

Heute früh konnte ich mich wieder darüber freuen, nachdem der gestrige Tag zunehmend einsamer, hoffnungsloser, schwärzer geworden ist. Solange ich viel zu tun hatte, war der Samstag durchaus in Ordnung. Frühmorgens, bevor das Gutbürgertum aufwacht, einkaufen, die Beute in meinen Bau schleppen, einräumen, aufräumen, putzen, waschen... so vieles bleibt liegen, obwohl ich jetzt schon fast drei Wochen ausschließlich von zu Hause aus gearbeitet habe. Home Office - Fluch und Segen zugleich. Von vielen als verlottertes Faulenzerdasein bespöttelt bringt es für mich sehr viel mehr Stress als das Arbeiten im Büro mit sich - mit sehr vielen Überstunden. Sogar die österlichen  Feiertage waren mir nicht heilig, zu viel war zu tun... Vor allem die inhaltliche Arbeit an meinen neuen Össipharm-Studien schrie geradezu nach Ruhe und voller Konzentration, denn zu viel Neuland wollte verstanden und umgesetzt werden.  Auf der einen Seite war das gut und richtig so, auf der anderen Seite jedoch kam mein Hamsterrad nicht zur Ruhe, zumal es sich ab Dienstag noch viel schneller als sonst drehte. Ich habe viel geschafft bis Freitagabend - aber noch lange nicht genug...

 

Darum hielt ich es gestern für eine gute Idee, nach so vielen Wochen endlich mal eine richtige Pause einzulegen. Mich nicht mehr ständig getrieben fühlen zu müssen. Nicht nur vom Job, sondern auch von meinem bewegungsintensiven neuen Lebenswandel, der neben den vielen tollen Errungenschaften (sehr erfreulicher Gewichtsverlust, Freude an der Bewegung, viel bessere Beweglichkeit als all die Jahre zuvor) auch zu einer angeknacksten und nach wie vor regelmäßig motzenden Rippe, heftigen Beschwerden in den Kniegelenken und revoltierenden Achillessehnen beidseits geführt haben, nachdem ich die täglichen Schritte ein wenig übertrieben hatte und  dabei erfolgreich auf die Schnauze gefallen war). Drum beschloss ich gestern Nachmittag nach getaner Hausarbeit,  nichts mehr müssen zu müssen und ging einfach ins Bett, um einen ausführlichen Mittagsschlaf zu halten. Sch*** was auf die fehlenden Schritte...

 

Als ich gegen 18:30 Uhr wieder aufstand, fühle ich mich zunächst wunderbar erholt. Aber dann kippte die Stimmung. Die Frei/h\z/eit zeigte ihre düsteren Schattenseiten, nachdem der Halt des untermüdlichen Hamsterrades weggefallen war. Stattdessen ein ungewohntes InneHALTen, ohne unter Zeitdruck die nächsten Prioritäten setzen und Entscheidungen fällen zu müssen. Bedrohliche Gedanken gewannen zu viel Raum, füllten mich aus, ließen sich durch den Mangel an Stress nicht einfach so wegschieben.

 

Natürlich habe ich Angst vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus. Noch mehr Angst habe ich davor, dass es meine Lieben schwer erwischt, ihre Leben bedroht. Es ist eine Zumutung, dass Ärzte Patienten mit "leichten"? Atemwegserkrankungen ab morgen nicht mehr telefonisch krankschreiben dürfen. Ich will nicht, dass Ines mit COVID-19 infiziert wird... 

 

Im Verlauf des Abends wurde mir mein schon seit unserem Venedig-Abenteuer im Februar bestehendes Alleinsein schmerzhaft bewusst. Unterbrochen wurde es lediglich am Gründonnerstag, als Filius mich für wenige Stunden besuchte. Ansonsten bin ich allein. Jeden Tag, jede Nacht. Zunächst habe ich es bei all dem Stress im Job als angenehm empfunden. Introvertierte haben Hochsaison, ENDLICH Ruhe! Ich wusste mein Alleinsein zu genießen, war froh, dass nur meine Piratenmonsterchen mir Gesellschaft leisteten.

 

Gestern tat die Einsamkeit auch körperlich weh. Sie wäre leichter zu ertragen, wüssten wir, wann die sozialen Einschränkungen wieder aufgehoben werden können, ohne jemanden zu gefährden. Seine Unberechenbarkeit macht dieses Virus so perfide. Es wiegt uns in vermeintlicher Sicherheit, gaukelt uns vor, "doch gar nicht so schlimm" zu sein, versucht, die sinnvolle Prävention lächerlich dastehen zu lassen. Um sich dann zunächst unbemerkt zu verbreiten, sich bewirten und mästen zu lassen, derart an Fahrt aufzunehmen, dass sich seine Lawine nicht mehr aufhalten lässt. 

 

Es ist verdammt noch mal zu früh, zur Normalität zurückkehren zu wollen. Unser altes Leben ist vorbei, wir bekommen es nicht wieder zurück. Das Virus ist stärker als wir, hat einen längeren Atem,  vermag uns zu töten, wenn wir es nicht ernst genug nehmen. Wenn diejenigen, die jetzt  alle Vorsichtsmaßnahmen für übertrieben halten und lautstark nach dem Exit aus dem Lockdown rufen, einsehen, dass sie gestern - also heute -  im Unrecht waren, ist es zu spät. 

 

Reason-Ability NOW! Die Freiheit, die vorzeitige Lockerungen des Lockdowns bringen würden, wäre eine flüchtige.

 

Die Diskrepanz, einerseits lediglich von einem Tag zum nächsten planenzu können und andererseits zu wissen, dass uns die Seuche noch viele, viele Monate oder sogar Jahre unsere  Freiheit nimmt, ist nur schwer zu ertragen. 

 

Bisher habe ich diese Gedanken wahrgenommen. Aber nicht zugelassen, dass sie mir zu nahe kommen. Ich hatte keine Zeit dazu, scheute die ausführliche Konfrontation mit ihnen. Gestern haben sie mich mit voller Wucht niedergeschlagen, haben mir Angst gemacht, mich immer wieder weinen und schließlich sehr unglücklich ins Bett gehen lassen. Auch dort ließen sie mich nicht los, wurden im dunklen Zimmer für viele Stunden noch bedrohlicher. 

 

Nach dem Aufstehen heute früh ging es mir nicht wesentlich besser. Nach dem dritten Eimer Kaffee beschloss ich, trotzdem weiterzumachen. Nicht zu resignieren. Zog mir meine Schuhe an, lief durch den Morgennebel den Sachsenhäuser Berg hinauf in den Wald, den ich fast für mich alleine hatte. Und versank in tröstendem, intensivem Grün. 

 

 

Im Wald habe ich überlegt, ob der Inne-Halt gestern ein Fehler war. Ich hätte nachmittags ja auch arbeiten können, wäre abends sehr müde gewesen, ins Bett gegangen, hätte mir die schmerzhaften Gefühle erspart. Sie verdrängt. Aber das hätte sich irgendwann gerächt...

 

Es ist verdammt noch mal schwer, die momentane virulente Corona-Situation auszuhalten, insbesondere, wenn wir uns bewusst machen, dass wir erst am Anfang stehen. Das, was sich jetzt schon wie eine Ewigkeit anfühlt, begann für mich am 26. Februar in Venedig... und wird uns noch einen verdammt langen Atem abverlangen, vorausgesetzt, wir bekommen überhaupt noch Luft. Um das sicherzustellen, hilft es nur, durchzuhalten, alle Einschränkungen auszuhalten. Und sich selbst hin und wieder zu erlauben, schwach sein zu dürfen, auch mal alles zum Kotzen zu finden, große Angst zu haben, zu weinen, sich selbst leid zu tun, überhaupt keinen Bock mehr zu haben. All diese negativen Gefühle zuzulassen, sie nicht zu verdrängen. Ihnen zu signalisieren, das wir wissen, dass sie da sind, dass sie durchaus  ihre Daseinsberechtigung haben. Wir müssen sie wohl oder übel akzeptieren, aber nicht zulassen, dass sie Macht über uns gewinnen. Eine Gratwanderung... 

 

 

 

 

Auf dem Weg nach Hause habe ich nach längerer Zeit wieder den NDR-Podcast mit Prof. Christian Drosten gehört. Nachdem ich nichts mehr von Corona hören oder lesen wollte, gibt mir dieser Virologe wieder Halt in unsicherer Zeit. Im Gegensatz zu den vielen widersprüchlichen aktuellen Stimmen glaube ich seinen Einschätzungen, halte sie für realistisch. Ich mag seine sachliche, wissenschaftliche und trotzdem zutiefst menschliche Art.

 

Für mich fühlt sich der gestrige Abend an wie ein sehr heftiges Gewitter mit Blitzen, die sich schmerzhaft entladen haben. Das Unwetter durfte sich austoben und hat sich wieder verzogen, nachdem der Regen einiges an Ballast fortgespült hatte. 

 

Akzeptanz hilft mir, wieder aufzustehen. Und weiterzumachen. 

 

Frisch geschlüpfte Buchenblätter liebe ich. Sie sind unglaublich weich und zart...