Mein Pfad der Tugend begann,

nach und nach ohne mich weiterzugehen, als ich dich im Herbst 1996 kennenlernte. Mein damaliges Leben als fürsorglicher Familienmensch mit gestutztem Vorgarten, aber ohne weiterführende Hintergedanken erfuhr eine exotische Bereicherung. So eine wie dich hatte ich in den behüteten 32 Jahren davor nicht kennengelernt. Eine Frau, die sich der Verantwortung für sich selbst stellt und nebenbei in der Küche ein Klo aus den Fugen kloppt, die auf relativ kleinen Füßen ihren Weg geht, ohne vorher ihren Mann um Erlaubnis zu fragen – fast schon beängstigend, aber hochinteressant und faszinierend.

 

Ich wollte dich näher kennenlernen, was aber nicht so einfach war. Erst als unser kleines Schweinchen Billy meiner Unachtsamkeit und einem großen schwarzen Hund mit Jagdinstinkt zum Opfer fiel, ergab sich eine vorsichtige Annäherung. Benni und ich waren zu dir geflohen, als sich unser Haushaltsvorstand wegen des stattgehabten unbequemen Todesfalles echauffierte. Wir saßen zum ersten Mal in deiner Küche, du gabst dem trauernden Neunjährigen und mir zu essen und zu trinken, ein offenes Ohr, Wärme und Verständnis. So fing es an und ich weiß nicht, wie viele Nächte danach du und ich zusammen saßen, diverse Weinflaschen köpften und redeten. Besagter Haushaltsvorstand sollte dir einige Zeit später vorwerfen, dass du so etwas wie eine Hirnwäsche bei mir durchgeführt hättest. Immerhin, eine solche Wäsche setzt das Vorhandensein eines Denkapparates voraus. Du hast mich gelehrt, ihn sinnvoll zu nutzen, althergebrachte Wertvorstellungen in Frage zu stellen, darüber nachzudenken, ob ich nicht auch ohne die Aufsicht meiner familiären Vorgesetzten mein Leben in Freiheit gestalten könnte. Dir schlug zunächst meine Auflehnung entgegen, ich verteidigte mein bekanntes Unglück. Du hast an Fundamenten gerüttelt, die in meinem bisherigen Dasein in Stein gemeißelt waren. Zum Glück, kann ich heute nur sagen. Es waren viele Umwege nötig, bis ich den Pfad der Tugend hinter mir lassen und meinen Weg mit Achtung auch vor meinem Leben selbständig gehen konnte. Das vergesse ich dir niemals. Danke, Trudi.

 

In diesen bewegten Zeiten haben wir den einen oder anderen lustigen Ausflug links vom besagten Tugendpfad gemacht. Irgendwann hattest du auf deiner Couch gesessen und missbilligend draußen die Laternenpfosten betrachtet, die von Wahlplakaten der Republikaner verschandelt waren. „Die müssen weg!“, war unsere einhellige Meinung. Und so stapften wir im nächsten Morgengrauen mit einer Trittleiter und einem Seitenschneider ausgestattet zu den besudelten Pfosten. Du hieltest die Leiter fest und ich durfte die Laternen von den schmutzig-braunen Plakaten befreien. Wir schleppten sie in deinen Keller, die Aussicht aus deinem Wohnzimmerfenster war gerettet. Dummerweise prahlte ich vor meinem Exmann mit dieser Heldentat, was mir gehörigen Ärger von wegen Polizei, Staatsgewalt und Rache der Rechten einbrachte. Ich hätte die Klappe halten sollen, du hattest ja recht.

 

Ein anderes Mal hattest du mich abends zum feudalen Essen eingeladen. Wir spiesen vortrefflich, glühten uns mit Wein vor und zogen schließlich weit nach Mitternacht mit deiner Schubkarre los. Hinter der Bushaltestelle befand sich ein Materiallager für Straßenbauarbeiten, und da du deinem wunderbar wilden Garten einen kleinen Weg schenken wolltest, klauten wir diverse Betonplatten, die wir kichernd zu dir nach Hause karrten.

 

Auch deine letzte einsame Aktion passt ins Bild. Ihr Ergebnis macht mich sehr traurig. Dennoch freue ich mich für dich, dass du nun endlich in Frieden schlafen kannst, ohne dass die Schatten deiner Vergangenheit dein Dasein verdunkeln. Ich bewundere deinen Mut und deine Konsequenz.

 

 

Regina

 

 

 

22. Juli 2011