Elect the Dead Symphony

Konzert am 30. Juni 2010 in Berlin

 

 

Lichter Vormittag, Hbf. Frankfurt, Gleis 9 – repeatedly apologizing all inconveniences (Inglisch vor at onced DBler, heard in 2010) lümmelte ich mich in den klimatisierten Singlesessel Nr. 71, der den unschlagbaren Vorteil hatte, dass sich meine umfangreiche Übernachtungsequipage locker um mich herum versammeln ließ und stopfte mir die Kopfhörer meines mp3-Kumpels in die Ohren, während sich der ICE schonend auf den Weg in die Hauptstadt machte. Mit „Elect the Dead Symphony“ stimmte ich mich freudig gespannt auf das Konzertereignis des Abends ein und fragte mich, ob mich Serj Tankian livehaftig und in Farbe (das heißt im weißen Anzug) genauso faszinieren würde wie auf der DVD. Ich konnte es kaum fassen, diesen Menschen dank meiner wohlüberlegten und vernünftigen Ticketkaufaktion (Berlin grenzt schließlich beinahe an Frankfurt/mein) im Admiralspalast zu erleben. Die restliche Zeit wurde von mir großzügig verdöst und so spuckte mich der ICE schon relativ bald mitsamt Tross auf einen sehr heißen Berliner Hauptbahnsteig. Die nächste halbe Stunde verbrachte ich mit unsinnigen Aktionen (Schließfachbegutachtungen mit konsekutiver Aufgabe des Gepäcks am bemannten Schalter), bis sich Ines zwecks Vereinbarung eines Treffpunkts telefonisch meldete. Flugs kümmerte ich mich um wasserwirtschaftliche Angelegenheiten und zahlte ein immens hohes Lösegeld für die umsonst weggesperrte Ausrüstung, um wenig ergonomisch die S-Bahn zu entern. Nach nur einer Station entließ diese mich leicht desorientiert und in die Helligkeit der Friedrichstraße blinzelnd in den Nachmittag. Nicht zum letzten Mal während meiner Kult-Tour durch den Osten wischte ich mir Salzwasserseen aus den Augen und stapfte meinen renitenten Rollcontainer im Schlepp durch das quirlige GedrEnge Richtung Admiralspalast. Dessen majestätischer Innenhof lag im Schatten und das tat ich dann auch auf einem Holzpodest, um per SMS das Feintuning unserer Treffpunktwahl vorzunehmen. Während ich mich gierig mit leichter Cola abfüllte, bogen sie auch schon um die Ecke – Ines und unser mir bis dato noch unbekannter Forengott Bleeki. Wir drückten uns tüchtig und nahmen zwecks Rekreation wieder auf der Tribüne Platz, um in einer sachlichen Diskussion das Procedere festzulegen. Zu dritt gaben wir dann dem Zeltrolli Geleitschutz ins dustere Parkhaus, um ihn in Ines Zitronenfalter zu deponieren. Vorausschauend erkannte ich diesen Zeitpunkt als den richtigen, mich in mein kleines Schwarzes zu hüllen. Das klatschnasse türkise Shirt ersetzte die fehlende Dusche. Zu meinem Glück wurde diese Szene von den Scheinwerfern eines im Parkhaus umherirrenden spannenden Fahrzeugs illuminiert. Danach bewegten wir uns ein paar Schritte weiter, um eloquent zu essen und vor allem zu trinken. Vorfreude und Aufregung stiegen und Bleeki grinste sich eins angesichts zweier aufgekratzter pubertärer Rotzgören in der Blüte ihrer Begeisterung.

 

Diverse System of a Down T-Shirts flanierten vorbei und gegen 19:00 näherten auch wir uns herzklabauternd dem Admiralspalast, wobei Bleekmans Puls wohl noch der normofrequenteste war - bis ihm die Palastwachen beim Betreten des Konzertgebäudes die Kamera wegnahmen. Sauerei, wir hatten uns so auf Bleekis Fotos gefreut. Wir suchten unsere weit auseinander liegenden Plätze in den höheren Rängen auf. Dummerweise ließen sich meine langen Beine nicht einmal unter akrobatischen Verrenkungen in der zweiten Reihe des linken Ranges parken und so versuchte ich, mich auf der Treppe so klein wie nur möglich zu machen, um bloß nicht aufzufallen. Die Zeit verging inzwischen überhaupt nicht mehr, alle Uhren schienen kaputt zu sein. Der Admiralspalast füllte sich zusehends, schließlich war es endlich 20:00 Uhr, dann 20:05, 20:10, 20:13 - das blöde Licht war immer noch an, die Bühne blieb leer. Dafür entdeckte mich eine der Palastwachen und forderte mich höflich auf, meinen Platz aufzusuchen und die besetzte Stufe zu räumen. Verzweifelt blickte ich ihm mitten ins offizielle Gesicht, klagte mein Leid und flehte um Verständnis. Er schlug vor, dass er mir einen anderen Platz suchen wollte, was mir aber auch nicht passte. Als ich ihm versprach, mich ganz in die Ecke der Stufe zu quetschen, wurden wir von den Musikern des tschechischen Orchesters abgelenkt, die endlich! die Bühne betraten. Ich wandte mich ihnen angelegentlich zu und der Securityman verzog sich zum Glück dauerhaft. Ich lehnte mich weit über die Brüstung, schwitzte schon wieder in Strömen und geriet in Verzückung, als Serj, natürlich wieder im weißen Anzug, winkend und lächelnd die Bühne betrat. "Endlich!", schrie alles in mir und mein aufgeregtes Herzchen schlug mindestens so schnell und laut wie das von Ines auf der anderen Seite des Saales. Die ersten Töne von "Feed us" erklangen und ich war so glücklich, dabei zu sein. Schließlich hatte mich dieses Lied wenige Monate zuvor angefixt. Die Resonanz des Publikums war überwältigend, vom ersten Augenblick an sangen fast alle lautlos mit und zeigten eine unglaubliche Textsicherheit, bis schließlich frenetische Begeisterungsstürme den Sänger, Songwriter, Komponisten und Menschen Serj sowie das supergut aufgelegte tschechische Orchester mit seinem Dirigenten, dem Pianisten und nicht zuletzt den Gitarristen und background vocal Dan Monti umtosten. Dieser zeigte in Berlin eine weitaus größere stimmliche Präsenz als bei den Aufnahmen mit dem Auckland Philharmonia Orchestra und harmonierte hierbei unglaublich gut mit Serj, der den Saal spätestens mit Sky is over zum Überkochen brachte. Sichtlich beeindruckt bedankte er sich nach jedem Song nur kurz für den Applaus, um sich so schnell wie nur eben möglich wieder seiner Musik zu widmen. Obwohl er es mehr als verdient hätte, blieb er bescheiden und ließ sich nicht vom Publikum feiern und lieferte keine effektheischende Performance ab. Vielmehr zeigten sein Auftreten und die lebhafte Gestik, die ihn immer wieder das Spielen der Instrumente nachahmen ließ, seine zutiefst ehrliche Versunkenheit in seine Kompositionen, die innige Verbundenheit mit seiner Musik und deren Aussage gegen menschenverachtendes Handeln bis hin zum Völkermord. Ich hätte mich am liebsten noch weiter über die Brüstung gehängt, um ihm näher sein zu können - ein anstrengendes Unterfangen, dabei nicht vom Rang zu fallen. Inzwischen hatten die Temperaturen nicht nur bei mir längst den Siedepunkt überschritten. Serj pfiff auf konventionelle Eitelkeiten und entledigte sich seines weißen Jackets. Mit Lie Lie Lie nahm er sich frech grinsend selbst auf die Schippe, um dann mit Money, Baby ("I miss you", oh yeah, und wie!), Gate 21 und The Charade wieder ernst zu werden und zivile Missstände anzuprangern. Ich sehe (und höre) noch immer den tschechischen Musiker mit seinem Trompetensolo bei Charade, erinnere mich an die bewegenden Klänge und vollziehe den Genuss nach, wieder und wieder. Honking Antilope berührte mich zutiefst. Vor meinem inneren Auge bewegte sich der kleine Roboter aus dem Video zum Song als kleines, verletzliches Rädchen einer unbarmherzig übermächtigen Kriegsmaschinerie und als Serj schließlich am Schluss des Liedes mit leiser Stimme singend fragte, wer denn nur etwas gegen die tödliche Vernichtung "with only a song" ausrichten könnte, war die Antwort in den Köpfen der gebannt lauschenden Zuhörer mit Sicherheit einstimmig – Serj!. Überhaupt hatte er das sehr disziplinierte Publikum unheimlich gut im Griff. Vorzeitigen Applaus oder Zwischenrufe unterband er mit kleinen Gesten. Umgekehrt reagierte er auf die Resonanz seiner Fans. Das Konzert war ein mitreißender Dialog, Energie floss in alle Richtungen und bereicherte Künstler und Publikum. Saving Us und Elect the Dead waren ein Genuss, gefolgt von Falling Stars, das wiederum tief unter die Haut ging. Beethoven's C**t mag ich zwar nicht besonders, aber auch dieses Lied vermochte mich live und in Farbe gehört mitzureißen. Ich ahnte schon, dass dieses Konzert nicht mehr lange dauern würde und fürchtete mich schon vor dem unaufhaltsamen Ende, als Serj zum ersten Mal die Bühne verließ. Tobender, nicht enden wollender Applaus holte ihn zurück. Bei den ersten Tönen von Empty Walls verlor ich den letzten Rest meiner Fassung. Wie schon auf der DVD wirkte Serj beim Singen der unendlich traurigen Botschaft über den Mord am armenischen Volk einfach nur glücklich. Glücklich, seine Empfindungen mit seiner Musik, seiner außergewöhnlichen Stimme vermitteln und mit uns teilen zu können. Glücklich über die Wellen der Empathie und Solidarität, die ihm auch in Berlin entgegenschlugen. Ich habe die Bilder der Filme, die ich über den Völkermord an den Armeniern gesehen hatte - Aghet und Screamers - bei Empty Walls vor Augen gehabt. Armenische Menschen auf ihrem Todesmarsch into Nothingness, Serjs Großvater, wie er vom Tod seiner Mutter, seines Bruders erzählte... Burning... Wir haben diesen Song gemeinsam mit Serj gesungen, jedes Wort hat sich in meine Seele eingraviert. Viel zu schnell war es vorbei - Serj verbeugte sich gerührt, dankbar, glücklich - und ging.

 

Völlig verschwitzt, ausgelaugt und mit weichen Knien schlotterte ich die Treppen hinunter, musste mich sogar festhalten, lechzte nach Wasser und vor allem nach Ines. Ich musste unbedingt mein Glück, dieses Konzert erlebt zu haben, mit ihr teilen und so stand ich jenseits aller Contenance verloren im Innenhof herum. Endlich kam sie, sah wahrscheinlich genauso geschafft und überglücklich aus wie ich und so drückten wir uns erst einmal herzlich, um dann unseren Enthusiasmus in Worte zu fassen. Jürgen, wieder im Besitz seiner Kamera, zeigte sich ebenfalls begeistert. Sicher, das Konzert war kurz, es war erst 21:30 Uhr - aber viel mehr von dieser genialen Intensität hätte ich wohl auch nicht verkraftet. Wir beschlossen, angesichts der noch frühen Stunde, nochmals unsere "Stammkneipe" gleich um die Ecke zum Tanken aufzusuchen. Geradezu verdurstet bestellte ich mir einen großen Eimer Wasser und dazu einen großen Eimer Apfelsaft - meine Maßlosigkeit kannte wiederum keine Grenzen und so füllte ich mich ab. Es war unheimlich schön, die Konzerteindrücke mit den beiden anderen zu teilen, geradezu lebensnotwendig, denn sonst wäre ich wohl an ihrer Fülle erstickt. Irgendwann begaben wir uns wieder in das dustere Parkhaus und falteten uns in Ines Zitrone. Unser Glück war, dass Bleeki das Steuer in die Hand genommen hatte - ansonsten hätten Ines und ich schwer pubertierend und hyperventilierend in jener Nacht nicht aus Berlin herausgefunden.