E - Musik

 

 

 

Da musste ich doch glatt halb 90 werden, um so ein wildes, durchgeknalltes, abgefahrenes, lautes!!! (hä?), bewegendes (ich wurde in alle Richtungen geschubst) Rockkonzert zu erleben. Die Massen um mich herum waren zum großen Teil noch nicht einmal halb so alt wie ich, nur gut, dass ich vor meinem leider immer noch nicht bevorstehenden renitenten Renteneintritt noch rüstig genug war, um mich derart durchrocken zu lassen. My brain feels fucked this morning – vielleicht liegt das aber auch daran, dass Serj diese f-Vokabel immer wieder und wieder zu Recht benutzt hat. Im Vergleich zu Imperfect Harmonies im E-Werk in Köln war Elect the Dead Symphony im Berliner Admiralspalast ernste Musik – diesbezüglich hätte der würdige Palast das E vom Werk mit Fug und Recht verdient, während im Werk angesichts der Schweißfluten zwar keinem Admiral, dafür aber gefühlten 10.000 Piraten würdige Seeschlachten erfolgreich geschlagen wurden, während unser Piratenhäuptling auf der Bühne, der feinsinnige Poet, Zirkusdirektor, sensible Philantrop und Tierfreund, Zappelphilipp, Vollblutmenschundmusiker Serj kontinuierlich Kugeln in die Kanonen stopfte und Öl ins Feuer goss. Wäre ich 15, würde ich jetzt einfach „HAMMMMMER“ sagen und meinen Teeniemund ungläubig staunend nach der letzten Silbe nicht wieder schließen.

 

Mitgenommen hat mich diese Angelegenheit, und das nicht nur körperlich. Einiges hat mich auch verstört. Vom Hörgenuss hat mir das „ernste“ Konzert im Admiralspalast besser gefallen, vor allem, weil ich dort Serj singen hören konnte und nicht nur das Grölen des Pöbels um mich herum. Und weil das Publikum disziplinierter war – wobei aber auch Serj sich bei beiden Konzerten dem Ambiente und der Art der Events entsprechend verhalten hat. Ich gebe aber nur zu gern zu, dass ich meinen sonstigen Gewohnheiten und meiner nicht vorhandenen Musikalität zum Trotz verbal genauso gepöbelt und gegrölt habe – und es hat mir total gut gefallen, den einen oder anderen Finger im Takt in die Luft zu recken , rumzuhüpfen und -tanzen und zu brüllen, ähm, singen.

 

Nun aber mal der Reihe nach. Zu einem ordentlichen Konzertbericht gehört sowohl ein chrono als auch ein logischer Verlaufsrapport. Also: Ich sattelte die frisch gelockte garstig gelbe Kröte und hatte voll vergessen, den bei der E-Werk Security bereits berüchtigten Anstandskuchen zu rühren…

Nein, stimmt gar nicht. Es handelte sich um ein nachtgelichtetes Unterfangen und nicht um einen Spießerausflug. Die Bäh/n brachte mich mit einem komplikationslosen, schonenden Transport mit einer in ihrer Beinahigkeit schon fast erschreckenden Pünktlichkeit nach Köln und völlig aus dem Konzept. Verdattert verlief ich mich auf den ca. 347einhalb Metern vom HBF zum Hotel höchstens 4 x und beobachtete dabei den Dom aus verschiedensten Perspektiven. Dennoch ließ ich die Kirche im Dorf, checkte das Hotel, schmiss noch schnell meinen Rucksack auf den Schreibtisch und mich dieses Mal ausnahmsweise unter Ausschluss der Öffentlichkeit in mein kleines Schwarzes, versuchte eine später ohnehin zum Scheitern verurteilte Frisur, befestigte diese und mein Hirn mit schwarzer Spitze, lief an zwei Puderdöschen und dem Wimpernschwärzer vorbei und danach nur ganze zwei Mal um den Dom herum. Inzwischen hatte mein Handy den Ruf der bereits eingetroffenen Eule vernommen, die sich kurze Zeit später die lange Schlange vor dem E-Werk von hinten angucken sollte. Dort wollte ich auch hin – also nichts wie rein in die U-Bahn, aber flott. Die Schanzenstraße war dieses Mal kein bisschen kürzer als zuletzt im Dezember, die Schlange noch viel länger. Nacht(licht an eule) ergab, dass der kluge Vogel schon drin war. Schade, angesichts der Menschenmassen schwanden so die Chancen auf ein Minimalstforentreffen im kleinen Halbkreis. Trotzdem und aus mir unerklärlichen Gründen identifizierte mich die Eule dennoch und so folgte ich ihrem Käuzchenwinken und –rufen hocherfreut. Ich drängelte mich durch die Massen, stolperte fast über Menschen am Boden und dann schnätteten wir live und in Farbe ohne Hardware ausführlich drauflos. Es füllte sich zusehends und wurde immer kuscheliger. Wir freuten uns über unsere doch recht günstigen Stehplätze in der 6,75. Reihe (grob geschätzt) mitten vor der Bühne. Die Zeit bis 20:00 Uhr wollte trotz unseres angeregten Austausches so gar nicht vergehen. Zwischendurch fragte mich ein auch nicht mehr ganz taufrischer Typ, der uns wohl zugehört hatte, neugierig nach dem Konzert in Berlin und ich erzählte ihm so dies und das. Seine Frage nach Pogo im Palast verneinte ich – da wusste ich noch nicht, wie sich sowas anfühlt.

 

Pünktlich um 20:00 Uhr ging tatsächlich schon das Licht aus – unglaublich. Viza from Los Angeles. California ließen die Rampensäue raus und rockten die Bude vom ersten Ton an – wild, ausgelassen, frech. Und richtig gut, auch wenn ich sonst leisere Töne bevorzuge. „Kalt isses nicht“, hatten Eule und ich sinngemäß schon vorher schwitzelnd festgestellt und so wischte ich mir kontinuierlich die Brühe aus den Augen, um bloß nichts zu verpassen, denn die Bühnenshow der 9 Durchgeknallten war beeindruckend in ihrer Dynamik, Rasanz und Extrovertiertheit. Allen voran der charismatische Frontman K’noup, der selbstbewusst, fast schon unverschämt Kühnheit und Können vereinte und grinsend zu berichten wusste, dass sie first time in Germany und begeistert von den lots of alcohol seien. Ein starkes, sehr lebendiges Auftreten legte aber auch der Percussionist mit dem irokesen Zopf an den Tag, wenn er über die Bühne flitzte und doch nie seine Einsätze verpasste. Ob sein Kumpel, der Drummer, auch ein Gesicht hatte, vermag ich nicht zu beurteilen, denn er headbangte sein langes Kraushaar dauer. Die Jungs strotzten nur so vor Energie und Spielfreude – ein verdammt lauter Genuss. Metal, aber heavy, empfand ich Unbedarfte. Aber nicht nur – der etwas stillere Jivan Gasparyan jr. trug mit seinem Flöteninstrument (wie ein Duduk sah das Teil nicht aus, war aber zu weit weg, um sich von mir ordentlich identifizieren zu lassen) und trug mit seinen Tönen dazu bei, dass die Musik von Viza dem Lärm zum Trotz sehr melodisch, orientalisch klang. Während eines besonders wiilden Songs zückte K'noup eine Digicam, revanchierte sich beim Publikum mit wüsten Aufnahmen desselben, drehte die Cam um und bannte sich selbst singend auf den Clip. Dank dieser Band näherte sich das E(nergie)Werk unaufhaltsam dem Siedepunkt. Die Band verabschiedete sich überschwenglich, das Licht ging wieder an und dann wurde mindestens eine ewige Viertelstunde lang umgebaut.

 

Es war vorne noch viel, viel voller geworden. Besonders nervig war der relativ lange Kerl mit der riesengroßen armenischen Fahne vor mir, die mir immer wieder die komplette Sicht auf die Bühne nahm. Leider war mein Bein nicht lang genug und sowieso standen zu viele Unschuldige im Weg, um den Misse-Täter tüchtig in den Ar*** zu treten. Dennoch – direkte Körperkontakte zu fremder schweißbesudelter Haut ließen sich nicht mehr vermeiden. Offenriechlich hatten diverse Deodorants bereits kapituliert und verzweifelt Selbstmord begangen, mein Ambiente war jedenfalls ein rustikal deftiges. Tief unter mir quiekte eine überdrehte Mickymaus und drückte ihre eingezwängten Rundungen vertrauensvoll an mich. Hilfe, ich hasse ein solches GedrEnge, was tu ich nur hier und wo bleibt Serj? Nach subjektiven zwei endlosen Stunden betrat ein Teil des mir seit Berlin schon vertrauten tschechischen Sinfonieorchesters die Bühne und ließ sich mehr als umständlich verkabeln. Nur gut, dass ich ein so unglaublich geduldiger Mensch bin!!!

 

Endlich ging das Licht aus, es erklangen eigenartige laute Töne – Left of Center! Serj Tankian, ENDLICH betrat er die Bühne, grinste in die Runde und erhob die Stimme. Wauh, war das geil, das Gesamtpublikum war sich in seiner Begeisterung einig, viele grölten mit, außer mir, denn ich konnte den Text noch nicht. Dafür aber den von Lie, Lie Lie – was für ein Spaß, den übermütig hüpfenden Armenier mit ausgelassenem Grölen zu unterstützen und zu erheitern. An die genaue Setlist kann ich mich nicht erinnern, dieser Abend hat mich auf jeden Fall ein wenig hirnverbrannt, so what.

Sky is over ließ uns sowieso schon Aufgedrehte vollends ausflippen – einen solchen kollektiven Enthusiasmus habe ich noch nie geteilt bzw. gesteigert, unglaublich. Die Enge war fast unerträglich, aber inzwischen war mir auch das egal. Ich wollte nur eins – mehr von Serj. Und das war er mehr als bereit zu geben. Ich weiß nicht mehr, an welcher Stelle Honking Antelope kam, das ist auch unerheblich. Ich hätte vorher, mit der ruhigen, klassischen Version im Ohr, die mich im Admiralspalast so sehr verzaubert hat, niemals gedacht, dass mich dieser Song rockig interpretiert dermaßen mitreißen könnte - Serj hat es unbestritten drauf, die Welt zu ändern - with only a song.

Bei The Unthinking Majority habe ich dann aber die Flucht nach hinten angetreten, fühlte mich durch zwei Pogoknäuel, die sich gegenseitig rüde rammten, bedroht, bekam Angst. Von den Randalierern gingen fiese Wellen aus, die eine ungesunde Unruhe ins Publikum brachten. Und nicht nur ich fürchtete mich sehr. Zunächst dachte ich, dass die Mädels, die sich brutal um sich schlagend und boxend einen Weg durch die MEnge bahnten, auch nur Unruhe stiften wollten – aber die hatten Panik, sie wollten sich in Sicherheit bringen. Und auch ich suchte einen Ausweg für den Notfall, fühlte Panik aufsteigen, wollte raus – und sah keinen Weg, dachte an die Opfer der Love Parade in Duisburg, fürchtete, zu Boden gestoßen zu werden. Ein Junge führte seine weinende Freundin aus dem Pulk heraus an den Rand, streichelte sie tröstend. … Scheiße – sollte das für mich das Ende dieses Konzerts bedeuten? Das wollte ich trotz aller Ängste um keinen Preis und so zog ich mich langsam etwas weiter zurück, parkte mich neben einem Mammutbaum von einem jungen Kerl, der zwar auch recht ausgelassen hüpfte und tanzte, aber das war für mich OK, da konnte ich mithalten. Ich wünschte mir nach diesem Tumult ein paar ruhigere Stücke von Serj, aber die ließen noch auf sich warten.

 

Electron war stark, ich konnte gar nicht anders, ich musste das genießen. Auch Borders Are gefiel mir so viel besser als vorab bei youtube, es kam, so wie Theris schon erwähnt hatte, live ganz anders rüber. Und dann mein absoluter Höhepunkt dieses Abends – Yes, it’s Genocide. Das hat mich so sehr berührt, dass ich zittern musste. Ein Mantra, ja Theris, genau das ist es. Ich freue mich schon so sehr auf die CD, möchte dieses Lied immer, immer wieder hören, verinnerlichen, nie wieder vergessen. Und an diesen wilden Abend zurückdenken. Auch ich habe an das Lied von Karoliina Kantelinen gedacht, an die so ähnlichen Gefühle in jener Kirche in Rudolstadt. An das Leid der verfolgten und ermordeten Armenier, das niemals in Vergessen geraten darf. Ich verneige mich vor dem genialen Künstler Serj, danke ihm für seine einfühlsamen Botschaften, seinen sensiblen Umgang mit dem Unfassbaren, der dennoch niemals seine sprudelnde Lebensfreude unterdrückt. Dieser Mann lebt und arbeitet wie ein ungezähmtes Tier ("We don't consider ourselves as part of the environment because we think we're too good to be animals!" sagte oder schrieb er einmal dazu), lässt sich nicht von Konventionen beeinflussen, sagt geradeaus, was er denkt, eckt an, ist unbequem. Die personifizierte Zivilcourage, auch wenn und gerade weil civilization für ihn längst over ist.

 

Mit seinen leiseren Tönen brachte Serj die Massen wieder einigermaßen zur Ruhe – vorübergehend jedenfalls. Zwischen seinen Stücken ließ er sich nicht feiern, sondern unterbrach den frenetischen Applaus mit seinen politischen Botschaften gegen Krieg, Gewalt, Materialismus, für Menschlichkeit und Frieden. Ich hoffe und wünsche mir, dass auch dieses Inhaltliche in den Köpfen und Herzen der jungen Menschen um mich herum angekommen ist, dass es ihr Bewusstsein auch über diesen Abend im E-Werk hinaus nachhaltig beeinflussen wird. OK, bei solchen wie mir kurz vor Ablauf des Mindestverfallbarkeitsdatums kann das natürlich auch nicht schaden.

 

Dieser Abend in Köln ist unvergesslich – noch immer sehe ich Serjs vielfältige Gesichter und Seiten, seine Posen und schnellen Bewegungsabfolgen vor mir, die witzigen Tanzeinlagen, die pantomimischen Darstellungen verschiedenster Musiker, Serjs weit aufgerissene große braune Augen, die er immer wieder ironisch rollen lässt, sein unverschämt freches Grinsen, die tiefe Ernsthaftigkeit seiner Blicke, die auch die entlegensten Winkel einer Seele erreichen. Viel zu schnell schon kündigte er lachend this fucking Empty Walls an – eine wilde Herausforderung, den Text genauso schnell wie er gebrüllt zu kriegen. Ein Appell gegen das Töten unschuldiger Menschen, als Sühne für die Täter, die allein hinter leeren Mauern zurückbleiben sollen und zugleich Serjs Hymne an die Lebensfreude, die trotz allem niemals versiegen darf. Und dann waren sie alle weg – unerhört. So ging das nicht, wir Publikum brüllten nach einer Fortsetzung. Serj und seine Musiker ließen sich nicht lange bitten, sie kehrten im Laufschritt zurück, um als ohrenbetäubendes Finale the fucking (Serjs Mittelfinger schnellte nach oben) Money anzuprangern. Boooooooh ey, was war das geil, kollektiv den Finger nach oben zu recken, den Text zu schreien, die Geldgier zu verteufeln. Und dann war Schluss – einerseits war das traurig, andererseits musste ich aber auch dringend raus an die Luft. Ich überlegte noch, ob ich als erstes den Getränkestand überfallen sollte, aber da warteten schon mindestens hundertausend Durstige. Also sah ich mich nach der Eule um, die schon seit dem Umbau verschollen war, fand sie nicht und eilte daher so schnell es das GedrEnge zuließ nach draußen. Mein Rücken schmerzte höllisch, die Füße ebenso, mein rechtes Ohr schien einen pfeifenden Besatzer zu haben und alles in mir brüllte nach Wasser. Draußen war es besser, ich überlegte, die Eule anzurufen, aber das ging in dem Lärm mit meinen tauben Ohren auch nicht, schade. Also wartete ich ein bisschen, konnte dann aber so gar nicht mehr (Sorry, Nachteule - wenn alte Leute schon mal abends vor die Tür gehen!) -und so humpelte ich die 27 km Schanzenstraße entlang. Nein, nicht ganz – der mir schon bekannte Saftladen hatte noch geöffnet und so erstand ich zwischendurch eine lebensrettende Flasche Gerolsteiner. Zisch!!! Völlig ausgelaugt und fertig stand ich irgendwann vor dem großen Dom, der anstatt Platz zu machen wiederum meinen Weg blockierte und fand trotzdem irgendwie das Hotel wieder, entledigte mich der klatschnassen, stinkenden Klamotten und duschte ausgiebig. Danach lag ich im Bett, schrieb Eule SMSe, hörte dem Rauschen meines Ohres zu und war dank meiner Überwältigung natürlich nicht in der Lage, einzuschlafen. Was für ein Abend – was für ein wunderbarer Serj.

 

[nachtlichter, Ende August 2010]

 

 

 


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