Die dreizehnte Fee

Gehetzt läuft Nina durch den nächtlichen Regen. Nach der Hitze des Tages dampfen die dunklen, menschenleeren Straßen. Die Luft ist schwül und schwer. Das Gewitter hat sich noch nicht verausgabt, es scheint sich am Fluss festzuhalten, um neue Energien zu sammeln. Ab und zu zucken lautlose Blitze in der Ferne. Die intensiven Düfte von gelöstem Staub, Ozon und Blüten haben etwas Berauschendes.
"Bloß nicht langsamer werden", denkt Nina verbissen. "Ich will sie hinter mir lassen, sie abhängen, ich will meine Ruhe! Verdammt noch mal."
Das Gefühl, ihren Alpträumen wehrlos ausgeliefert zu sein, macht sie ungemein wütend und traurig zugleich. Die Schatten ihrer Vergangenheit sind lang genug, um ihre Gegenwart noch immer zu verdunkeln.

Zwei Täter waren damals in jenem eiskalten Winter dabei und zugleich zwei Zeugen, als es aus Versehen passierte. Eine Panne, ein Unfall. Niemand hatte damit gerechnet, einmal nicht aufgepasst und schon war es zu spät. Die beiden würden sich später als Opfer fühlen, während ihr Opfer sein Leben lang unter ihrer Zügellosigkeit leiden und von ihnen als Schuldige, als Sündenbock gestraft werden sollte.

Fratzen aus dem Traum tauchen auf. Im Rhythmus ihrer schnellen Laufschritte skandieren sie: "Du bist ein Nichts, niemand, nicht mehr als ein Nichts, niemand, nur ein Nichts..."
Nina rennt jetzt fast, sie kann diese Stimmen nicht mehr ertragen, ihre Ablehnung, ihren Hass. Doch in ihr flüstert es unentwegt weiter: "Du bist ein Nichts, niemand, nur ein dummes Nichts, niemand, du bist ein Nichts, niemand, Nina."
"DOCH!" gellt ihr langgezogener Schrei über den Fluss, "doch, ich bin jemand!", setzt sie etwas leiser nach. Aufgeschreckte Enten quaken empört über die nächtliche Ruhestörung. Ein Hund schlägt an - danach ist nur noch das Prasseln des Regens zu hören.

Völlig durchnässt steht Nina am Ufer, sie schwitzt, schluchzt, ringt nach Luft. Ihre Tränen vermischen sich mit dem Regen. Sie lässt den Oberkörper fallen, die Arme baumeln, ihr Herz schlägt viel zu schnell, sie befindet sich absolut nicht mehr im vielzitierten aeroben Bereich. Sie richtet sich langsam wieder auf und atmet tief ein. Es geht ihr besser jetzt. Sie hat sich körperlich verausgabt und ihr Schrei hat sie von einem Teil ihrer Last befreit. Sie hat widersprochen, sich gegen ihre Träume zur Wehr gesetzt, sie nicht mehr hilflos hingenommen.
Der Kampf um die Freiheit ist noch lange nicht vorbei, das weiß sie. Von außen betrachtet hat sie es schon vor Jahren geschafft, indem sie sich aus einer unglücklichen Ehe befreit, eine Sucht besiegt und die Kontakte zu ihrem früheren Leben abgebrochen hatte. Es war nicht leicht, dennoch hat sie es geschafft, auf eigenen Füßen zu stehen, selbständig zu sein und die Verantwortung für ihr Leben und das ihrer Restfamilie zu übernehmen. Grund genug, stolz zu sein. Ihr Verstand weiß das – die Seele jedoch hinkt hinterher, ist noch nicht überzeugt. Ein Luftzug kühlt ihren verschwitzten Körper, eine Wohltat. Es ist halb drei Uhr morgens, inzwischen schläft nun endlich jeder.
"Hoffentlich", denkt sie, denn auf unerfreuliche Begegnungen der finsteren Art ist sie absolut nicht scharf. Obwohl sie viel zu aufgewühlt ist, um sich zu fürchten. "Und wo niemand ist, kann mir keiner was tun." – dieser Gedanke wiegt sie in Sicherheit. Außerdem redet sie sich ein, sowieso keine Angst mehr zu haben – vor nichts, niemandem und vor dem Tod sowieso schon mal gar nicht. Vielleicht wäre es sogar eine Befreiung für ihre eingesperrte Seele, wenn dieses Motto, diese Prophezeiung endlich in Erfüllung ginge: "Du sollst nicht leben!", flüstert sie.

Sie hatten sich hinreißen lassen, ohne die möglichen Konsequenzen zu bedenken. Gut, sie waren jung und unerfahren, hatten erst vor kurzem die autoritäre Enge ihrer Elternhäuser verlassen und genossen jetzt in vollen Zügen ihre Freiheit – sie hatten keine Ahnung, dass diese Freiheit so flüchtig sein würde. Denn ihre Tat sollte sie auf lange Sicht einsperren.

"Komm, Mädchen, nimm maln kräftign Schluck!"
Der Bass fährt ihr in die Glieder, sie zuckt erschrocken zurück. Erst jetzt nimmt sie die Gestalt wahr, die sie wohl schon die ganze Zeit beobachtet hat und jetzt den Schatten unter der Brücke verlässt.
"Machste Frühsport?", kichert der Alte und hält ihr seine Lambruscoflasche unter die Nase. Er schwankt leicht. Schon allein seine Fahne wirkt benebelnd.
"Nee, Danke, ich will keinen Alk."
Nina weist ihn schroff ab und zieht sich vorsichtshalber ein paar Schritte zurück. Die Duftkomposition aus Alkoholdunst und längerer Körperpflegeabstinenz ist in der feuchtwarmen Luft besonders markant. Das freundliche Lächeln des Obdachlosen weicht tiefer Enttäuschung.
"Och komm, Mädchen, du bist doch ganz nass geschwitzt, musste doch Durst ham", insistiert er.
Ninas Kehle ist völlig ausgetrocknet, sie will nur noch weg hier, nach Hause, jede Menge Wasser trinken und danach lange duschen.
"Dankeschön für das Angebot", sagt sie noch, denn immerhin ist dieser heruntergekommene Weihnachtsmannverschnitt mit den langen weißen Strähnen und dem Rauschebart freundlich zu ihr. Sie dreht sich schnell um, will wieder loslaufen und stolpert fast über einen großen schwarzen Hund, der ihr einfach den Weg abschneidet. Er blickt sie aus blutunterlaufenen großen Augen tiefsinnig an, geht behäbig ein paar Schritte auf sie zu und leckt ihr mit seiner triefenden Zunge wohlwollend die Hand, bevor er seine sabbernde Schnauze gründlich an Ninas heller Jogginghose putzt. Das ist zuviel – Nina platzt heraus und lacht schallend über das zottelige Urviech. Sie hockt sich zu ihm und streichelt ausgiebig sein zerzaustes, verfilztes Fell. Der Hund grunzt begeistert. Im letzten Moment kann Nina seinen herzhaften Kuss abwehren. Sie hört den Alten kichern und einen herzhaften Schluck aus der Flasche nehmen.

Wären sie doch besonnener vorgegangen ... Pure Lebenslust war es, die sie unvorsichtig werden ließ. Hemmungslos gaben sie sich heimlich ihren bisher unerfüllten Wünschen hin, taten das Verbotene und mussten dieses doch so bald schon tief bereuen. Noch war es nichts, niemand konnte es sehen– aber das würde sich ändern, viel schneller, als es ihnen lieb war. Zur Strafe würden sie gefesselt werden. Genau das würde eintreten, wovor sie geflohen waren.

Sekunden später blitzt und donnert es gleichzeitig – ohrenbetäubend, nervenzerfetzend. Wassermassen stürzen auf sie herab. Das Gewitter tobt sich aus, direkt über ihnen. Kreidebleich erstarrt Nina, Panik hat sie erfasst.
"Komm schnell", ruft der alte Mann und zerrt an ihrem T-Shirt. Nina folgt ihm und seinem Hund unter die Brücke, wo er ihr hinter ein paar schiefen Brettern einen Platz auf einer kaputten Matratze anbietet. Ächzend lässt sich der Betrunkene neben ihr nieder.
"Jakob heiß ich", stellt er sich höflich vor und deutet auf den zotteligen Hund. "Und das ist Pulle."
"Ich bin Nina."
Ihre klägliche Stimme versagt fast.
"Hey, du rennst mitten in der Nacht am dunklen Fluss rum und nu haste Schiss vor som büschen Donnerwetter, kann doch nich sein. Guck ma, hab auch was für dich. Die hat mir son fürsorgliches Muttchen heute geschenkt, die meinte, dass ich bei der Affenhitze mal was Gesundes süffeln soll!"
Jakob lacht sich schier kaputt und reicht Nina eine Flasche Fachinger.
"Is porentief sauber und reinicht von innen."
"Danke, Jakob", krächzt Nina heiser.
Ihre Angst vor dem Gewitter hat jetzt auch noch den letzten Rest Speichel versiegen lassen. Sie öffnet die Flasche und kippt ungefähr die Hälfte in sich hinein.
"Du hast ja n Zuch am Leib, meine Fresse." Jakobs Anerkennung lässt sie lächeln. Die Erfrischung tut ihr gut. "Och kumma Pulle, lächeln kann se doch, siehste, geht doch. Und nu sachma, was treibt denn so eine süße Lady wie dich um diese Unzeit zu so dusteren Gestalten wie uns?"

Verheimlichen, ignorieren – eine Zeitlang ließ sich ihre Tat totschweigen. Es war alles in Ordnung, nichts passiert, niemand ahnte etwas. Bis auf sie, die Täterin. Sie fürchtete sich davor, dass ihre Ahnung Gewissheit werden könnte und jeder ihr auf den ersten Blick ansehen würde, was sie getan hatte. Ihr Komplize war noch immer unbekümmert, lebte in den Tag hinein und wunderte sich allenfalls über ihre Gereiztheit. Sie fühlte sich wie auf einem Pulverfass – eines Tages würde es zum großen Knall kommen.


Ein weiterer Blitz gefolgt von einem markerschütternden Donnerschlag lässt Nina zusammenfahren. Sie hält sich die Ohren zu und vergräbt ihren Kopf zwischen den Knien, drückt sie zusammen. Sie will nichts mehr sehen und hören, das Unwetter macht sie fertig. Sie spürt den heißen Atem des Hundes in ihrem Nacken, er stupst sie tröstend mit seiner feuchten Nase an und legt seine Pfote beschwichtigend auf ihr Knie. Hechelnd beschützt er sie.
"Ach du bist so lieb, Pulle!"
Nina umarmt den Hund, vergräbt ihr Gesicht in seinem Fell und weint hemmungslos. Pulle schmiegt sich an sie, seine Nähe beruhigt Nina, ihr Weinen wird leiser.
"Na Pulle", meint Jakob lächelnd. "Du oller Schwerenöter und Seelenköter, bist'n ganz Feiner."
Er sieht zu, wie sich Nina das Gesicht an ihrem nassen Ärmel abwischt.
"Vor was läufste denn wech, Kleine?"
"Grässliche Alpträume", schnieft Nina. "Die quälen mich so furchtbar, ich halte die nicht mehr aus."
"Willste nich doch was von dem Wein, der hilft vergessen."
Es gluckst, während Jakob trinkt. Er rülpst vernehmlich. Und dann hat sie schon wieder die große Flasche vor der Nase. Sie schiebt sie bestimmt zurück.
"Nein, ich will das nicht. Den Suff habe ich hinter mir, das Elend brauch ich nicht noch mal, daran will ich nicht krepieren."
"Scheiße, da haste recht", pflichtet Jakob ihr undeutlich bei. "Du kennst dich also auch aus damit. Aba mir isses schnurz, ich erwarte nix mehr vom Leben, will nur meine Ruhe ham." Jakob richtet sich auf, kramt im Dunkeln und legt Nina dann eine zerschlissene Decke um die Schultern. "Bis ja nass bis auf die Knochen – nich dasse krank wirs."
"Du bist auch ein ganz Lieber, Jakob."
Dankbar sieht Nina in Jakobs trübe Augen. Sein faltiges Gesicht wirkt gütig, das verschmitzte Grinsen lenkt von den vielen Schrunden und Narben ab. Er kratzt sich nachdenklich den Nacken blutig. "Schleppe", denkt Nina – eine der vielen Krankheiten der Obdachlosen.

Es wurde eng, verdammt eng. Eine schnelle Lösung musste her, eine endgültige. Der Schaden musste aus der Welt geschafft werden. Gewalt war der einzige Ausweg. Blut sollte fließen, es würde weh tun – aber lieber ein schreckliches Ende als ein lebenslanges Joch. Die Tat würde noch mehr Lügen nach sich ziehen und noch ein Verbrechen, dieses Mal Mord. Nichts, niemand würde sie zu etwas zwingen, unterdrücken, in ein Gefängnis bringen "Das darf nicht leben!" Soviel stand fest.


"So schlimme Alpträume, dass du wechlaufen musst? Hast du denn keinen Liebsten, der dich innn Arm nimmt, tröstet und dann wieder innn Schlaf schaukelt?"
Bei dem Gedanken an ihren Ex-Freund schnaubt Nina verächtlich.
"Den letzten Beziehungsversuchsirrtum habe ich im Januar in die Wüste geschickt. Das Schwein hat mich belogen und betrogen. Ich will so was nicht mehr, die können mich alle mal kreuzweise."
Trotzig nimmt sie ein paar kräftige Schlucke aus der Wasserflasche, um sich gleich darauf intensiv mit dem Hund zu beschäftigen. Pulles Kopf und Schultern liegen inzwischen gemütlich auf Ninas Schoß. Ab und zu schnarcht der Hund. Nina krault ihn vorsichtig, streicht ihm die langen Haare aus den Augen.
"So ein verschmuster und sensibler Mensch wie du und ganz allein, nee, das passt nicht, Mädchen." Jakob schüttelt entschieden seinen Kopf.
"Ich bin ja nicht allein", entgegnet Nina. "Ich habe einen Sohn, der ist aber im Moment verreist. Und einen knuffigen Hund, einen Schisser, wenn es gewittert, und jetzt zittert er wohl immer noch unter dem Waschbecken."
"Ich habe auch einen Sohn", erzählt Jakob. "Und zwei Töchter. Die sind schon lange erwachsen und kennen mich vorsichtshalber nicht mehr, den erfolgreich versumpften Herrn Ex-Prokuristen. Kein Wunder." Jakob klingt verbittert. Er seufzt abgrundtief.
"Weil du Platte machst, ganz am Rand unserer tollen Gesellschaft, hinter Normalspießers Tellerrand, von dem du abgerutscht bist..."
"Jau ey." Jakob kichert in sich hinein. "Das haste schön zusammengefasst, Nina!"
Sie lächelt dem Clochard herzlich ins Gesicht. Jakob greift hinter sich, fördert eine Schnapsflasche zu Tage und gönnt sich einen kräftigen Schluck.
"Nastrovje... Nee, weißt du, Einsamkeit is auch nix. Zum Glück ist Pulle bei mir, der ist ein guter ehrlicher Kumpel, seit sonz keiner mehr was von mir wissen will." Sein Blick scheint nach innen gekehrt, er presst die Lippen hart zusammen und sein Gesicht verdüstert sich. Nina legt ihren Arm um Jakobs Schultern und drückt ihn. Sein Geruch raubt ihr fast den Atem, aber das zählt in diesem Moment nicht.
"Ich mag dich, Jakob. Das haste nun davon!", grinst sie ihn frech an.
Fassungslos schüttelt Jakob seine weißen Strähnen. "Du machst mich fertich, du Göre."
Einen Moment schweigen beide, dann fragt Jakob plötzlich: "Komm, erzähl mir, was träumst du, wer oder was quält dich so sehr?"
Sein Blick wirkt jetzt sehr wach, ein Ausweichen scheint zwecklos zu sein.

Das Laken war blutverschmiert. Sie hatte entsetzliche Angst. Einen Arzt zu holen war nicht drin, der würde sie anzeigen. Hoffentlich hatte die unfreundliche Alte etwas von ihrem Handwerk verstanden und mit ihrem scheußlichen Werkzeug nicht gepfuscht. Sie krümmte sich vor Schmerzen und fühlte sich elend. Sie bereute es zutiefst, schwach geworden zu sein, sich auf die Tat eingelassen zu haben. Aber vielleicht würde jetzt alles wieder gut. Das nächste Mal würde sie erfahrener und vorsichtiger vorgehen.

"Diese Gestalten in meinen Träumen rammen mich in Grund und Boden, sagen und zeigen mir unentwegt, dass ich ein Nichts, ein Niemand bin, lassen kein gutes Haar an mir. Ich soll mich ständig schämen und ein schlechtes Gewissen haben, nur weiß ich eigentlich gar nicht, warum. Meine Eltern zwingen mich zur Dankbarkeit, und ich kann es nicht sein, versuche, mich gegen sie zu wehren, zu widersprechen – und dann streiten wir ganz furchtbar, so unendlich verletzend – seelisch und körperlich. Ich bin nicht so, wie sie mich wollten. Und eigentlich wollten sie mich überhaupt nicht. Ich habe nicht gehorcht, entsprach nicht ihrem Bild, ihrem Ideal von mir. Vor allem meine Mutter hat mich immer abgelehnt, von Anfang an, seitdem mein Herz in diesem Zellhaufen angefangen hat zu schlagen."
Jakob wirkt jetzt vollkommen nüchtern, er hört ihr aufmerksam zu. "Erzähl weiter, Nina, sag mir, was dir weh tut. Wir haben alle Zeit der Welt."
"Ich bin eine dreizehnte Fee – zwar nicht dumm, nicht hässlich, aber irgendwie viel zu blöd, etwas aus mir, aus meinem Leben zu machen. Ständig hagelten Vorwürfe, dass ich nicht karrieregeil bin, nicht total viel Kohle verdiene... Immerzu bremst und blockiert mich etwas, das bin ich ganz bestimmt selbst. Knapp vorbei ist auch daneben. Vor 3 Jahren habe ich den Kontakt zu ihnen abgebrochen, aber sie lassen mich nicht los, sie verfolgen mich heimtückisch, wenn ich mich nicht wehren kann, wenn ich schlafe. Dann hagelt es Vorwürfe und diesen verlogenen Satz "Wir meinen es doch nur gut mit dir, wir wollen doch dein Bestes" – genau das haben sie mir genommen. Meine Eltern zeigen mir, wie egoistisch und schlecht ich bin – dabei habe ich doch gar nicht darum gebeten, auf diese Welt zu kommen, ich kann doch nichts dafür. Es fühlt sich für mich so an, als ob meine Mutter mir schon vor meiner Geburt das Mal auf die Stirn drückte: "Du sollst nicht leben!" ist seine Inschrift. Ich hab so die Schnauze voll, hab mich 20 Jahre mit Alk betäubt, versucht, mich kaputtzumachen, wollte schon ein paar Mal Schluss machen – aber das kann ich doch meinem Sohn und dem Hund nicht antun. Manchmal will ich nicht leben, das tut so verdammt weh. In meinen Träumen bettele ich um Liebe und werde getreten, hab Angst davor, verlassen, allein gelassen zu werden... ich will nicht mehr, Jakob."

"Doch, du willst, Nina – sonst hätteste mit dem Alk nicht Schluss gemacht. Du bist verdammt stark. Und schön. Und nicht dumm. Dein Weg ist nicht leicht, ich weiß, ich kann dich verstehen. Und doch – du bist so 'ne Seltene, schwimmst gegen den Strom, bist unbequem, wenn es sinnvoll ist. Du bist mutig genug, dir deine Fehler einzugestehen und was zu ändern. Dummerweise machst du dich dabei aber immer noch viel zu schlecht, das muss aufhören. Du bist jemand! Gibt nicht auf, Nina, bitte nicht! Ich glaube an dich, ganz fest."
Jakob hat Tränen in den Augen. Nina weicht seinem Blick nicht aus, hält ihm und den vielen Gefühlen, die er ausdrückt, stand, sie flieht nicht. Dieser Augen-Blick verbindet die beiden so unterschiedlichen Menschen, graviert sich tief in ihre beiden Seelen.
"Ich werde bald nicht mehr da sein, Nina. Bin zu kaputt, krank, hab mich selbst zerstört, aufgegeben. Mach du nicht denselben Fehler, zeig es allen und vor allem dir selbst, dass es auch anders geht. Du kennst die Abgründe – vermeide sie. Leb du für mich weiter, Kleine."
"Ich will nicht, dass du gehst", ruft Nina verzweifelt. "Ich will bei dir sein, dir helfen!"
"Nein, bloß das nicht. Das wäre für uns beide schrecklich, du würdest mich beschämen und daran scheitern, ich bin ein hoffnungsloser Fall, du kannst mir nicht helfen – weil ich es nicht will. Mein Weg ist bald zu Ende und das ist auch gut so, ich wünsche mir, endlich friedlich zu schlafen. Du hast noch ein ganzes Stück vor Dir, mach was draus, geh von mir aus Umwege, stolpere, fall hin, aber steh verdammt noch mal immer wieder auf. Ich will das so, Nina! Nichts und niemand kann dir was tun. Und wenn du wieder einmal Angst hat und dich unendlich verlassen fühlst, dann guck in die nächste Pfütze, in die Gosse oder auch ins Klo, wo sich die Amöben tummeln – mein rüpelnder Poltergeist wird überall sein und dich nie allein lassen."
Nina hängt tief bewegt an den Lippen des alten, weisen Mannes.
"Sag jetzt nix, komm lieber mal mit, das musste sehen."
Jakob zieht Nina hinter sich her, aus dem Bretterverschlag heraus, unter der Brücke hervor ins Freie. Die Dämmerung verheißt einen schönen Julitag. Noch ist die Luft kühl und frisch. Nebel steigt vom Fluss auf. Langsam steigen die beiden die Treppenstufen hoch, gefolgt von einem sehr verschlafenen Pulle, und nähern sich der Brücke.
"Ich ziehe heute weiter", erwähnt Jakob fast beiläufig. "Zu Kumpels, will mal was anderes sehen und hören, ich halte es nie lange wo aus, weißte."
Nina schluckt. Sie möchte Jakob nicht so bald schon verlieren, aber sie nimmt seinen Wunsch ernst.
Über dem Fluss färbt sich der Nebel rosa. Nach den heftigen Wolkenbrüchen wirkt die Stadt wie frisch gewaschen, blitzblank und unschuldig. Pulle schüttelt und streckt sich, gähnt herzhaft und streift die Müdigkeit in seinem Gesicht an Ninas Hose ab. Er gähnt nochmals, reckt dann die Schnauze gen Himmel und heult wie ein Husky in das wolkenlose Blassblau.

Vor vielen Jahren im September. Sie wurde gefoltert, die Schmerzen waren mörderisch, raubten ihr fast die Sinne. Die gerechte Strafe für ihre erste Tat. Das Folgeverbrechen, der Mordanschlag, war leider misslungen. Jetzt musste sie büßen. Wieder und wieder spürte sie die quälenden Messerstiche in ihrem Innersten, immer kürzer wurden die Abstände zwischen ihnen. Der Schmerz zerriss ihren Körper, sie schrie wie am Spieß, rief, dass sie sterben wolle, wand sich wie im Todeskampf. Die Minuten schienen zu Stunden zu werden, schier endlos war die Qual, es gab keine Gnade, kein Entrinnen. Doch urplötzlich war es vorbei. Ein dünnes, zittriges Stimmchen meldete sich, schrie verhalten. "Ein Mädchen, wie schön" freute sich die Hebamme und zeigte ihr stolz das zerknitterte, blutverschmierte Bündel. "Herzlichen Glückwunsch" strahlte der Arzt. Entsetzt musterte sie ihre Tochter und fühlte sich zum ersten Mal verpflichtet, Mutterliebe zu heucheln. Sie strich dem winzigen Wesen über das Gesicht, aber sie ließ sich nicht entfernen, die Inschrift auf der Stirn des kleinen Mädchens, die sie in den letzten 9 Monaten dorthin gemeißelt hatte. Nur sie konnte diese Worte entziffern: "Du sollst nicht leben!" Das eigenwillige, hässliche Menschlein jedoch zeigte sich schon in seinen ersten Lebensminuten ungehorsam – es widersetzte sich ihrem Fluch.

Erste Sonnenstrahlen durchdringen den Nebel und streichen sanft über die drei übernächtigten Gestalten.
"Geh nach Hause, Nina, du wirst dich dort finden. Und ich ziehe jetzt weiter. Nichts und niemand kann und wird uns beide aufhalten, jeder von uns geht seinen Weg."
Nina umarmt den alten Mann und drückt ihn herzlich. "Ich hab dich lieb, Jakob", flüstert sie, während ihr die Tränen über die Wangen laufen.
Jakob grinst ihr amüsiert mitten ins Gesicht, wischt behutsam mit seinen schmutzigen Fingern die Tränen fort und lächelt: "Nu hab ich doch noch ne Nacht mit ner dollen Frau verbracht. Und nun zieh ab und guck dich bloß nicht um, ich hasse Abschiede. Und vergiss bloß nicht: Dir kann keiner was, nichts und niemand, Nina. Du sollst leben!"


[Regina Versen, Juli 2007]