Nanuq

Gletscherlagune Jökulsárlón, Island, Juni 2015
Gletscherlagune Jökulsárlón, Island, Juni 2015

  

 

Nach vielen Streifzügen und Abenteuern, bei denen sie verletzt wurde, hat Nanuq sich zurückgezogen. Sie möchte ihre Wunden heilen lassen und nicht riskieren, dass sie wieder aufbrechen. Oder neuer Schmerz entsteht. Sie hat sich deshalb von den anderen Polarbären isoliert und kauert ganz am Rand des Permafrostfestlandes. Nanuq sieht den Wellen zu und genießt den Blick auf das offene Meer, sieht übermütige Robben spielen, verspürt aber nicht genug Hunger, um sie zu jagen. Die Luft ist lau, viel zu warm für den Winter und manchmal knackt das Eis schon jetzt bedenklich laut, viel zu früh im Jahr. Während die Eisbärin gelangweilt ein wenig döst und manchmal auch kurz einnickt, erschüttert sie plötzlich ein bedrohlicher Ruck, kurz darauf gellt ein Bersten in ihren Ohren. Als sie voller Angst ihre Augen aufschlägt, sieht sie, dass sie sich jetzt nur noch auf einer kleinen Scholle befindet, die sich zügig vom Festland entfernt. Sie treibt auf das offene Meer hinaus, ganz allein. Nanuq zögert, überlegt zu lange, ob sie ins Wasser springen soll, um zu den anderen zu gelangen. Sie selbst hat die Einsamkeit gewählt, Kontakte zu ihren Gefährten abgebrochen. Sollte dieser Entschluß jetzt zu ihrem Verhängnis werden? Wie gelähmt verharrt sie auf ihrer Eisscholle. Die beiden Jungbären aus ihrem letzten Wurf sind selbständig und gehen ihre eigenen Wege. Nanuq hat sie alles gelehrt, was sie zum Überleben in Alaska brauchen. Alte Eisbären ziehen sich oft in die weiße Einsamkeit zurück, um in Ruhe zu sterben – die Zeit für diese letzten Schritte ist jedoch für Nanuq noch lange nicht gekommen. Ihrer Müdigkeit und Lethargie zum Trotz spürt sie Leben in sich, für das es sich zu kämpfen lohnt. Die Bärin hofft inständig, wieder auf tragfähige, große Eisflächen zu treffen, die ihr Halt geben. Immer wieder brechen große Stücke von ihrer Scholle ab. Das Eismeer macht seinem Namen keine Ehre mehr, zuviel hat sich in den letzten Jahren verändert.

 

Fast schon sehnt sie sich nach dem mörderisch kalten Wind, den immer tiefer sinkenden Wintertemperaturen zurück, die in der Vergangenheit immer wieder Eisbären das Leben kosteten – trotzdem, die warme Luft erscheint ihr noch viel gefährlicher. Sie lässt Nanuqs winzige Insel schmelzen, entzieht ihr den Boden unter den Tatzen. Das will die Eisbärin nicht zulassen – ihr alter Kampfgeist erwacht. Sie verlagert ihr Gewicht vorsichtig und erreicht, dass ihre Scholle sich dreht. Die Strömung im Polarmeer ist tückisch, birgt aber auch Vorteile, denn die Richtung ihrer unfreiwilligen Fahrt ändert sich. Das Eisfloß knirscht. Seine Konsistenz paßt sich mehr und mehr seiner Umgebung an.

 

Für Nanuq gibt es jetzt keinen Halt und darum auch kein Halten mehr: Beherzt springt sie ins Eismeer und schwimmt um ihr Leben. Nicht hektisch, sie zwingt sich, ruhig und beharrlich zu schwimmen, sich nicht aus Panik zu verausgaben. Das kalte Wasser macht sie hellwach, schärft ihre Sinne. Die Bärin streckt ihre Nase in den Wind, nimmt Witterung auf. Sie verläßt sich auf ihren Instinkt, konzentriert sich auf ihre Bewegungen und legt eine weite Strecke zurück. Als sich irgendwann, als schon längst wieder Dunkelheit die Arktis einhüllt,  Erschöpfung bemerkbar macht, riecht der Wind plötzlich anders. Nanuq folgt der Spur, die ihre Nase aufgenommen hat und schon bald nimmt sie andere Eisbären wahr. Erschöpft klettert sie an Land und schüttelt sich, bevor sie sich hinlegt, um sich tief und fest schlafend für einen neuen Tag zu wappnen.

  

 

Irgendwann wird überall nur noch Wasser sein –

ein vollkommen(er) blauer Planet...

 

 

 

rv, irgendwann 2005